Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
sind mittlerweile tot. Eine lebt in einem Dorf nicht weit von hier, aber sie hat spät geheiratet, ihre Kinder sind noch sehr klein. Ihre Töchter kommen frühestens in sechs oder sieben Jahren ins heiratsfähige Alter. Die andere Schwester brachte nur Söhne zur Welt, dann hatte sie eine Fehlgeburt, und jetzt ist sie unfruchtbar.«
»Wie steht es mit Eurer eigenen Familie?«
Ispal fragte sich, ob es klug war, einem Fremden von diesen Dingen zu erzählen, aber Vikash lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich heiratete meine Frau Tanuva, als sie fünfzehn wurde, nach der Rückkehr von meiner ersten Reise nach Hebusal, während des ersten Kriegszugs, wie ihr Ferang ihn nennt. Unsere ersten Kinder waren mein ältester Sohn Jai und tot geborene Zwillinge. Es war das einzige Mal, dass uns ein solches Unglück widerfuhr. Im folgenden Jahr hatten wir zwei Töchter, Jaya und Ramita. Zwei Jahre später bekamen wir Zwillinge, zwei Jungen, dann wurde ich eingezogen und musste erneut nach Norden marschieren. Das war während des sogenannten zweiten Kriegszugs. Was für ein Fiasko! Der Mogul und der Sultan konnten sich nicht einigen, wir waren vollkommen auf uns allein gestellt. Wir hatten Hebusal noch nicht erreicht, da hatten wir schon nichts mehr zu essen und kein Wasser mehr. Nur aufgrund meiner Erfahrung und des Ranges, den sie mir gegeben hatten, konnte ich meine Kompanie retten. Als wir zurückkamen, hielten die Leute uns für Geister, so abgemagert und zerlumpt waren wir, so schwarz von der Sonne.« Er tätschelte seinen leicht gerundeten Bauch. »Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder bei Kräften war.«
»Der zweite Kriegszug fand 916 statt«, sinnierte Lowen. »Das waren schlechte Jahre für die Händler. Und seitdem?«
Ispal trank seinen Tee aus. Als er sich nach der Kanne umsah, gab Vikash einem der Diener ein Zeichen, neuen zu bringen. »Nachdem ich zurück war, brach die Pest aus. Nach fast jedem Krieg ist das so. Unsere arme Jaya fiel ihr zum Opfer, die beiden Jungen ebenfalls, und wir waren nur noch zu viert. Zumindest für eine Zeit, denn Tanuva und ich bekamen noch mehr Kinder: zuerst zwei Jungen, dann drei Töchter. Eins der Drillingsmädchen starb zwei Jahre später an einem Fieber. Jai ist jetzt siebzehn Jahre alt, und Ramita wurde gerade sechzehn. Die Zwillinge sind zehn, die beiden überlebenden Drillingsmädchen acht. Macht zusammen sechs Kinder. Genug, wie ich finde.« Er lachte. »Meine arme Tanuva sagt, sie hat auch so schon jeden Tag so viel Arbeit.«
Graav beugte sich vor. »Dann ist Ramita Eure einzige Tochter im heiratsfähigen Alter?«
Lowen Graav war ganz offensichtlich darauf bedacht, das Geschäft möglichst schnell abzuwickeln und nach Hebusal zurückzukehren. Gut. Nur ein törichter Mann macht überhastete Geschäfte . »Absolut, Lowen-Saheb«, erwiderte Ispal. »Sie ist jedoch einem anderen versprochen, dem Sohn meines Blutsbruders. Es ist schon lange abgemacht, und die beiden sind sehr glücklich miteinander. Sie lieben sich sogar.« Er lächelte wohlwollend – Ispal, der gütige Vater, der für seine Tochter genau den Richtigen ausgesucht hatte.
Vikash Nooradin legte die Stirn in Falten, als erwarte er von Ispal, das Geschäft hier und jetzt unter Dach und Fach zu bringen, statt noch lange herumzufeilschen.
Ispal ignorierte ihn. »Wer ist Euer Klient, mein werter Herr?«, fragte er. »Wie lautet sein ehrenwerter Name?«
Lowen schüttelte den Kopf. »Mein Klient ist ein älterer Herr von großem Reichtum, ein Yurer. Vor Kurzem verstarb sein einziger Sohn und Erbe. Er braucht Kinder. Hautfarbe oder Religion sind ihm egal, aber er verlangt, dass sie fruchtbar ist. Sehr fruchtbar.« Er grinste unvermittelt. »Er gestattete mir weiterzuleiten, dass bei einem Mann in seinem Alter jeder Pfeil ein Treffer sein muss. Das waren seine Worte. Meister Ankesharan, es klingt, als wäre Eure Tochter die Beste, die ich nur finden kann. Ich bin weit gereist und niemandem mit einer vergleichbaren Erblinie begegnet.«
Gut, noch ein Verhandlungsvorteil für mich. Ispal beugte sich nach vorn und tat, als spreche er nur aus rein theoretischem Interesse. »Nehmen wir nur für den Moment einmal an, ich wäre bereit, meiner Tochter das Herz zu brechen, und würde die Verlobung mit dem Mann, den sie liebt, auflösen. Nehmen wir an, rein theoretisch, ich würde tatsächlich darüber nachdenken, sie nach Norden zu schicken, wo ich sie nie wiedersehen würde, sie, den Sonnenschein meiner bescheidenen Existenz.«
Weitere Kostenlose Bücher