Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
nannten – »waren die Erhöhungen alles andere als exorbitant und wurden zusätzlich durch Handelserlöse und Beutegut aus dem ersten Kriegszug abgefedert. In Wirklichkeit stand Noros sogar besser da als vor dem Kriegszug. Aussagen und Erzählungen von Stadtbewohnern und -beamten bestätigen dies.«
Alaron riskierte einen weiteren Blick, und wieder war er überrascht: So manche Stirn lag in tiefen Falten, und alle machten nachdenkliche Mienen. Der Gouverneur strich sich den Bart, Hauptmann Muhren biss sich sogar auf die Lippe. Wenigstens hören sie zu …
»Zu den Ernten: Die Getreidespeicher wurden nie ganz geleert, sie waren sogar noch voll genug, um die leidenden Kleinbauern zu unterstützen.« Er führte noch ein paar weitere Graphen an. »Und zum dritten Punkt: Es wird oft behauptet, die Legionen seien im Zustand der halb offenen Meuterei vom Kriegszug nach Noros zurückgekehrt. In Wahrheit jedoch kehrten viele der Offiziere als reiche Männer nach Hause zurück. Sie waren zwar gegen die neue Kopfsteuer, wollten aber eine friedliche Lösung für den Konflikt. In Denkschriften aus der Zeit nach der Revolte zitierten General Robler und Gouverneur Vult aus Reden gegen die Revolte, die sie 907, 908 und Anfang 909 gehalten hatten.« Alaron blickte kurz in Richtung des Gouverneurs, bereit, die angeführten Texte zu projizieren, falls nötig, aber Vult nickte verhalten. »Selbst Anfang Februx war die gesamte militärische Führung noch gegen die Revolte, und der Meinungsumschwung fand noch vor Einführung der neuen Steuern im Martris statt. In seiner Denkschrift spricht Gouverneur Vult von einem ›ebenso unerklärlichen wie unausweichlichen Stimmungsumschwung zugunsten einer Rebellion‹ noch im Februx 909.«
Alaron breitete die Hände aus. »Es ist möglich, dass es in den niederen Rängen bereits einen Stimmungsumschwung gegeben hatte, aber mir scheint, dass im Februx 909 auch unter den Generälen die Meinung sich grundlegend änderte. Es ist dieser Meinungsumschwung, den ich näher untersuchen möchte.«
Jetzt hatte er in der Tat die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. Hauptmann Muhren sah aus, als würde er den Vortrag am liebsten abbrechen lassen. Vult lächelte süffisant und stützte gespannt die Ellbogen auf die Knie. Alaron fühlte sich geschmeichelt. »Ich werde nun vier bisher nicht berücksichtigte Tatsachen anführen, von denen ich glaube, dass sie noch nie in dieser Weise miteinander verknüpft wurden.« Er beschwor ein dreidimensionales Bild von drei Marmorbüsten herauf und ließ sie um die eigene Achse rotieren. Er hatte diesen Trick lange und oft geübt und war glücklich, weil die Mühe sich offensichtlich gelohnt hatte. »Es gab eine Zeit, da kannte jedes Kind diese drei Norer. Auf allen öffentlichen Plätzen standen Statuen von ihnen, ihre Porträts waren in jedem Lehrbuch zu finden. Die Menschen beteten sogar für ihr Heil. Unter allen Kanonikern sind diese drei die einzigen Norer: Fulchius, Keplann und Reiter. Alle drei waren Aszendenten, haben vom Kaiser für ihre Dienste und Tapferkeit das Ambrosia erhalten. Während der Revolte lebten sie als gefeierte Helden des Kaiserreichs in Pallas. Nach der Revolte jedoch wurden sämtliche Standbilder von ihnen niedergerissen, alle Bücher, in denen von ihren Taten die Rede war, aus dem Verkehr gezogen. Sie seien inzwischen an Altersschwäche verstorben, hieß es. Die Kirche erklärte die norischen Unterrichtsbücher für veraltet und zog sie ein. Sie ließ verlautbaren, als Strafe für Noros’ Rebellion würden die Bilder der drei nicht mehr öffentlich gezeigt. All das klingt zwar halbwegs glaubwürdig, aber ist es nicht seltsam, wenn drei Aszendenten innerhalb eines Jahres an Altersschwäche sterben, wo ihre Lebensspanne doch mehrere Jahrhunderte umfasst? Hätte es als Strafe für die Revolte nicht genügt, ihre Standbilder zu entfernen? Warum wurde ihr Andenken so restlos aus dem öffentlichen Gedächtnis gelöscht?«
Alaron war wie hypnotisiert von dem konzentrierten Ausdruck auf Vults Gesicht und von Muhrens Anspannung. Er zögerte einen Moment, dann blendete er sein Publikum wieder aus und fuhr fort: »Die zweite Tatsache, auf die ich hinweisen möchte, ist die anhaltende Besetzung Noros’. In Schlessen und Argundy gab es mehrere Aufstände, in Noros lediglich einen, und der verlief weit weniger blutig. Dennoch besteht die Besatzungsmacht hier in Noros aus acht Legionen. Acht! Das sind mehr Soldaten, als die gesamte norische Streitmacht
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