Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
verursacht hatten. Ich werde mit Bestnote bestehen!
Er zeigte das Abbild einer Schriftrolle. »So sieht die Urkunde einer Heiligsprechung aus. Bitte beachtet den Passus: ›In die Aszendenz erhoben‹. Jeder noch lebende Heilige wurde in die Aszendenz erhoben – bis zur Noros-Revolte. Jeder Anwärter wurde in die Katakomben der Pallas-Kathedrale geführt, wo die Skytale des Corineus aufbewahrt wird,und dort kam er entweder als Aszendent wieder heraus oder als Leiche. Seit der Revolte wurden zwei noch lebende Personen heiliggesprochen, doch in keiner der Urkunden findet sich der Vermerk ›In die Aszendenz erhoben‹, nicht einmal bei unserer geliebten Imperia-Mater Lucia!«
Gemurmel erhob sich im Auditorium. »Wurde es übersehen? Hat man einfach vergessen , die Kaiserinmutter zur Aszendentin zu machen?«
Er machte eine Pause, ließ das Gemurmel noch weiter anschwellen. Das Gefühl, das Publikum so im Griff zu haben, war unbeschreiblich. Als Alaron die Hand hob, und das Auditorium augenblicklich verstummte, fühlte er sich beinahe wie ein Gott.
»Was, wenn es eine andere Erklärung gibt? Was, wenn der Gegenstand, den Fulchius, Keplann und Reiter gestohlen haben, der ist, der die norischen Magusgeneräle so kampfstark machte, nämlich der, nach dem die Rondelmarer bis heute suchen? Was, wenn es der Gegenstand ist, der einen Sterblichen in die Aszendenz erhebt? Was, wenn Fulchius die Skytale des Corineus gestohlen hat ?«
Das Gemurmel wurde zum Tumult, und aus diesem Tumult stachen zwei Gesichter hervor: Hauptmann Muhren, aschfahl und so rasend vor Wut, dass Alaron beinahe schützend den Arm vors Gesicht gehalten hätte. Und Gouverneur Vult: Vollkommen ruhig saß er da mit nur dem leisesten Anflug eines Lächelns auf den Lippen.
Zu spät fielen Alaron Ramons Worte wieder ein: »Es könnte gefährlich sein, diese Version der Revolte da drin vorzutragen, Amiki.«
Aber zumindest beeindruckt mussten sie doch sein. Die meisten wussten nicht einmal, dass Langstrit in Norostein verhaftet worden war – in den Aufzeichnungen der Legion hatte sich kein Hinweis darauf gefunden. Alaron hatte Dutzende von Veteranen befragen müssen, um all diese Informationen zusammenzutragen. Und in der Bibliothek seiner Mutter fanden sich Bücher, die selbst viele Gelehrte nicht besaßen, geschweige denn die Magister.
»Meine Folgerung ist schlüssig«, erklärte Alaron. »Die norischen Kanoniker stahlen Corineus’ Skytale und haben dann die Revolte angezettelt. Schwachblütige Magi aus Noros wurden über Nacht mächtig, die Revolte ging unter dubiosen Umständen zu Ende, und seitdem suchen die Rondelmarer hier verzweifelt nach etwas. Meine Schlussfolgerung erklärt all diese Ungereimtheiten und fügt der offiziellen Geschichtsschreibung eine wichtige Neuinterpretation hinzu.«
Im Auditorium brodelte es. Vorsteher Gavius hob die Hand. »Ruhe, bitte, werte Herren. Ist dein Vortrag hiermit beendet, Meister Merser?«
Alaron nickte. Sein Kopf drehte sich, eine Riesenlast fiel ihm von den Schultern. Er hatte ihre Aufmerksamkeit errungen, das Auditorium sogar gefesselt. Er hatte alle optischen Effekte hinbekommen und gut gesprochen. Er war zufrieden – und absolut erschöpft.
Jetzt hob auch Magister Fyrell die Hand. »Hast du irgendwelche Belege, dass man in Pallas nicht einfach beschlossen hat, den Wortlaut der Heiligenurkunden zu ändern? Oder basiert deine Argumentation womöglich auf einem Fehler eines Schreibers, Merser?«
Alaron musste sich zusammenreißen. »Diese Urkunden werden vom Großen Kirchenvater selbst aufgesetzt, Magister. Sie gelten als das Wort Kores, als die unumstößliche Wahrheit. Somit kann die Auslassung kein Fehler sein. Sie muss Absicht sein.«
Jetzt war es Gouverneur Vult, der sich zu Wort meldete. Alaron spürte einen Anflug von Nervosität. »Wenn die Generäle der norischen Revolte alle mit solch wundersamen Kräften ausgestattet worden wären, wie du sagst, wie kommt es dann, dass auch ich kein Aszendent bin?« Vults Speichellecker lachten pflichtschuldig.
Alaron versuchte, die verschiedenen Bedeutungsebenen der Frage abzuschätzen. Er merkte, dass er sich jetzt auf sehr dünnem Eis bewegte. »Edler Herr, es ist möglich, dass nicht ein einziger der Generäle in die Aszendenz erhoben wurde, dass diese wundersamen Kräfte, die sie plötzlich an den Tag legten, in Wahrheit das geheime Werk Fulchius’, Keplanns und Reiters waren. Außerdem erklärt Euer Einspruch nicht die anhaltenden Grabungen. Es wäre
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