Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
gemerkt hast«, flüsterte Elena ihm ins Ohr.
Rukka! Spiegel … Illusion …
Der Boden raste ihm entgegen.
Erschöpft sank Elena neben dem toten Magus zu Boden. Sie sammelte all ihre verbliebene Kraft und zog ihre Messer aus der Leiche, zitternd vor Erleichterung. Samir war auf die Spiegelillusion hereingefallen. Sie hatte ihn dort angegriffen, wo er am schwächsten war: in seinem Verstand, und sie hatte einen Volltreffer gelandet. Aber es war verdammt knapp gewesen. Und Fadah war tot.
»Schneid ihm den Kopf ab«, flüsterte sie Lorenzo zu.
Der Ritter starrte sie entsetzt an.
»Tu es. Es gibt Zauber, die ihn selbst jetzt noch wiederbeleben könnten. Wir müssen ganz sichergehen.« Röchelnd schnappte sie nach Luft und kroch durch die Rauchschwaden aufs Fenster zu. »Cera? Timi?«
Die Nesti-Kinder reckten die Köpfe, und Elena hörte, wie Lorenzo sein Schwert aus der Scheide zog. Ein dumpfes, schmatzendes Geräusch hallte durchs Zimmer, und Cera schrie kurz auf. Dann kletterte sie mit Timi über die Glaszacken, die aus dem Fensterrahmen ragten, und stürzte sich in Elenas Arme.
Elena drückte die beiden fest an sich, auch Lorenzo kam heran, das Gesicht geschwollen und verbrannt. Samirs Kopf lag in einer immer größer werdenden Blutlache, die Augen weit aufgerissen in ungläubiger Überraschung.
Wenige Augenblicke später kamen violett gekleidete Wachsoldaten hereingestürmt, Paolo Castellini an der Spitze, das zerklüftete Gesicht rasend vor Zorn. Sanft zogen die Soldaten die Kinder weg, um zu sehen, ob sie verletzt waren, aber Cera wollte Elena nicht loslassen, und Timi krallte sich leise wimmernd an Lorenzo fest.
Elena ließ sich von den Soldaten aufhelfen und auf wackligen Beinen aus dem verwüsteten Zimmer führen, vorbei an dem enthaupteten Leichnam des Mannes, der das alles angerichtet hatte.
»Ist Mutter …? Und Tante Homeirah?« Cera lag in einem Bett in einem Zimmer neben der Kapelle. Vier Wachen standen vor der Tür, überall liefen Ärzte und Diener umher. Sie und Elena trugen immer noch ihr versengtes Nachthemd. Ihre Füße sahen schlimm aus, aber der Schmerz drang erst allmählich durch.
»Es tut mir so leid«, stammelte sie. »Es tut mir so entsetzlich leid.«
Cera starrte ins Leere. Die Diener, die ihre Schnittwunden auswuschen und verbanden, nahm sie nicht einmal wahr. Das Einzige, was sie registrierte, war der Schmerz in ihrem Innern. Plötzlich schlug sie sich eine Hand vor den Mund. »Vater!«
Elena fühlte sich so hilflos. »Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, etwas herauszufinden, aber ich kann ihn nicht erreichen.« Das ist alles meine Schuld. Ich hätte Samir in seinem Bett töten sollen. Ich hätte wissen müssen, dass Gurvon sich nicht einfach so zurückziehen würde. Nicht wenn die Möglichkeit bestand, einen Haufen Geld zu machen, indem er alle umbringen lässt. Olfuss, Solinde. Wen noch? Die ganze Nesti-Familie? Die Palastwachen in Brochena können Gurvon und Rutt nicht aufhalten. Und wer weiß, vielleicht haben sie auch noch den Rest der Mörderbande mitgebracht. Ich bin so eine Idiotin! Und jetzt steht dieses unschuldige kleine Mädchen ganz allein Dutzenden von Feinden im eigenen Reich gegenüber. Ich habe sie alle im Stich gelassen …
Der Tag zog wie im Nebel vorüber, Gesichter kamen und gingen, während draußen die Klagerufe nicht abrissen. Elena erwachte aus unruhigem Schlaf. Sie war auf dem Stuhl neben Ceras Bett eingeschlafen, den Kopf auf der Matratze. Eine Hand streichelte ihre Schulter.
»Ella«, flüsterte Cera.
Sie setzte sich auf und ließ den Kopf hängen. »Ich habe euch alle im Stich gelassen, Cera.«
»Hast du nicht! Du hast uns gerettet , Ella. Ohne dich wären wir jetzt alle tot.« Sie legte Elena einen Finger auf die Lippen. »Schhh. Du hast uns alle gerettet: mich, Timi, Lorenzo, alle. Du bist eine Nesti. Du bist jetzt eine von uns.« Sie zog Elena an sich und streichelte ihr übers Haar, als sei sie jetzt die große Schwester. »Ich werde dir einen Orden verleihen und einen Titel. Ich werde dir Land geben und den besten Hengst aus unseren Ställen. Du wirst in Forensa bleiben und ein freies Leben führen können.« Dann fügte sie mit ernstem Gesicht hinzu: »Ich habe nachgedacht. Ich muss vor die Leute treten. Sie müssen sehen, dass ich noch am Leben bin. Es wird alle möglichen Gerüchte geben, bis mich jeder mit eigenen Augen gesehen hat. Alle müssen wissen, dass es die Nesti noch gibt.« Sie tätschelte Elenas Wange. »Du solltest
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