Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
riss mich von dem schrecklichen Anblick los und hielt Ausschau nach irgendeiner Möglichkeit, ihm zu helfen. Vor einem der Häuser entdeckte ich einen Wassertrog. Ich humpelte hin und schaffte es irgendwie, trotz meiner gebrochenen Schulter zwei Handvoll Wasser herauszuschöpfen. Als ich wieder bei ihm war, waren nur noch ein paar Tropfen übrig. Die ganze Zeit über hatte der Offizier mich beobachtet, einen Arm um die Hexe gelegt. Ihre Lippen bewegten sich, und ein fahles Leuchten spielte um ihre Hände und die pechschwarzen Augenhöhlen. Ich weiß noch, wie blankes Entsetzen mich packte, sie könnte sich heilen und sich dann auf mich stürzen. Aber das tat sie nicht, sie kauerte nur am Boden, auf ihren Offizier gestützt. Doch zu meiner allergrößten Überraschung sagte der Offizier etwas zu mir, und zwar auf Keshi. ›Hier‹, sagte er, nahm seinen Helm ab und warf ihn mir zu. ›Wasser.‹ Zuerst war ich wie vom Donner gerührt, doch dann ging ich zurück zum Trog, füllte den Helm und wusch mit dem Wasser Raz’ Wunden. Einen Schluck davon trank ich selbst, dann, aus einem spontanen Impuls heraus, füllte ich ihn erneut und legte ihn auf den Boden, gerade so, dass der Rondelmarer ihn erreichen konnte. Ich wusste selbst nicht, warum ich es tat. Er gab ihn der jungen Hexe, die etwas murmelte, das Gesicht in Raz’ Richtung gedreht. Ich kannte das Wort damals noch nicht: dokken. Heute weiß ich, in ihrer Sprache bedeutet es ›dunkel‹. Was sie damit meinte, kann ich nicht sagen. Hätte ich um Hilfe gerufen, wären beide mit Sicherheit getötet worden, aber zuvor hätte der Offizier ebenso sicher noch mich und Raz getötet, denn ich bin kein Held wie Raz, also verhielt ich mich still wie eine Maus. Das Einzige, wozu ich den Mut aufbrachte, war, den Offizier zu fragen, warum. Er zuckte nur die Achseln und sagte: ›Befehle.‹ Befehle . Es war unfassbar, ich musste würgen. Sie wussten genauso wenig wie wir, warum sie uns töteten. Ich starrte ihn erschüttert an, und er starrte zurück. Er musste schlimme Schmerzen gehabt haben. Die Wunde in seinem Bauch war von der Art, an der man erst nach Stunden oder Tagen stirbt, und er flüsterte: ›Es tut mir leid. Es tut mir aufrichtig leid.‹ Dann sagte die Hexe etwas, und er wandte sich wieder ihr zu. Sie zitterte unkontrolliert, das Licht an ihren Handstümpfen und in ihrem Gesicht wurde stärker. Ich sah, wie ihre Schnitt- und Schürfwunden sich schlossen, sogar das Schienbein richtete sich von selbst wieder ein. Es war grausig anzusehen. Sie berührte seine Bauchwunde, und das Licht griff auf ihn über, sein Atem wurde ruhiger. Dann sank sie in sich zusammen. Nur noch ihre Brust bewegte sich kaum merklich auf und ab. Ihr Mund stand offen, der Atem ging pfeifend. Der Offizier warf mir den Helm wieder zu und sagte: ›Mehr Wasser. Bitte.‹ Am liebsten hätte ich den Helm weit weggeschleudert für das, was sie getan hatten, aber ich füllte ihn ein weiteres Mal und gab ihn zurück. Wäre ich ein Held, hätte ich ihm vielleicht das Schwert entreißen und sie beide töten können, aber ich tat es nicht. Stattdessen half ich ihm beim Trinken, und wir gingen ein Stück gemeinsam. Sein Name war Vann Merser, er war Hauptmann, Sohn eines Pelzhändlers. Als Kind war er mit seinem Vater schon einmal hier gewesen. Er fragte mich, woher ich kam. Es war bizarr, sich mit einem Feind zu unterhalten, noch während um uns herum die Stadt weiter in Schutt und Asche gelegt wurde, aber in diesem Moment waren wir ganz allein auf der Welt wie die zwei einzigen Überlebenden. Er sagte mir, dass die Hexe erst achtzehn Jahre alt sei und für den Rest ihres Lebens blind sein würde. An seiner Stimme hörte ich, dass er sie liebte und bei ihr bleiben würde. Dann senkte sich ein Schatten auf uns, ein weiteres Skiff, und noch bevor ich wusste, wie mir geschah, waren überall Rondelmarer. Sie trugen die Hexe und den Hauptmann an Bord, und ich war sicher, sie würden mich und Raz töten, aber der Hauptmann sagte etwas in ihrer Sprache zu ihnen, und sie ließen uns in Ruhe. Dann erhob sich das Skiff wieder in die Luft, und sie waren weg.«
Ramita und Huriya sahen einander an. Beide weinten. Entgeistert blickten sie Ispal an. Das war nicht die Geschichte gewesen, die er ihnen schon so oft erzählt hatte. Die Geschichte, die sie bisher gekannt hatten, war fröhlich und bunt gewesen, doch diese Schreckenserzählung klang weit glaubhafter.
Ispal schaute sie eindringlich an. »Ich habe euch stets
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