Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
etwas anderes erzählt, um euch zu schützen, aber das ist die wahre Geschichte, wie Raz und ich zu Blutsbrüdern wurden. Ich habe die beiden mit nach Süden genommen. Falima blieb bei ihm, obwohl er so schrecklich verbrannt war, und gebar ihm zwei Kinder. Sie war genauso eine Heldin wie er, Huriya. Die Liebe zwischen deinen Eltern ist wie ein leuchtender Stern unter uns Sterblichen. Erweise dich ihrer würdig. Und dir, Ramita, erzähle ich diese Geschichte, um meinen Freund und Bruder Raz Makani zu ehren, aber auch, damit du weißt, was dein zukünftiger Mann zu verantworten hat. Ich glaube nicht, dass er ein böser Mann ist, aber er ließ böse Dinge geschehen, und das quält ihn. Er versucht, seine Schuld an der Welt wiedergutzumachen, und du musst ihm dabei helfen. Respektiere ihn, aber fürchte ihn nicht. Denke auch an den Grund, den Hauptmann Vann Merser mir für den heimtückischen Angriff genannt hat: Befehle. Denn auch du wirst jetzt mit Menschen zusammen sein, die Befehle geben. Nimm dich vor ihnen in Acht, darum bitte ich dich. Menschen tun die grässlichsten Dinge, wenn sie glauben, nicht selbst die Verantwortung dafür zu tragen, sondern sie auf andere schieben zu können. Außerdem möchte ich, dass du stets daran denkst, dass diese Ferang mit ihren eigenartigen Kräften und in all ihrer Fremdheit immer noch Menschen sind. In diesem Hauptmann und allen anderen, die ich seither getroffen habe, wohnen Gut und Böse genauso beieinander wie in jedem, den ich hier in Baranasi kenne. Verdamme eine böse Tat, aber wisse, dass nur wenige durch und durch böse sind. Die meisten befolgen nur ›Befehle‹.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, diese Geschichte hilft euch, die Welt ein wenig besser zu verstehen. Sie ist kompliziert und undurchschaubar, alles kann geschehen, ohne Sinn, Zweck oder Moral. Manchmal frage ich mich, ob die Götter blind sind.« Er schaute den Mond an. »Vielleicht hat der Mond sie alle verrückt gemacht.« Er beugte sich über die beiden Mädchen, gab ihnen seinen Segen und ging.
Stumm saßen sie da, Arm in Arm, erschüttert von der Geschichte ihrer Familie. Stundenlang verharrten sie so, und es dauerte lange, bis sie einschlafen konnten.
Als Tanuva am nächsten Morgen Ramita wach rüttelte, war es draußen noch dunkel. Der Mond stand jetzt auf der anderen Seite des Firmaments, und im Osten war das erste Schimmern der Morgendämmerung zu sehen. »Komm, Tochter. Heute ist dein Hochzeitstag.« Ihre Stimme klang gehetzt.
Huriya schnarchte auf ihrem Stuhl, den Kopf im Nacken, als könne nichts auf der Welt ihren Schlaf stören. Ramita beneidete sie. Sie war erschöpft, hatte den Rest der Nacht von Hexen mit verbrannten Augen geträumt. Ispal wartete unten in der Küche, und gemeinsam knieten sie sich vor das kleine Feuer, das er gemacht hatte. Neben ihnen schliefen die Zwillinge in ihre Decken gehüllt. Ihr Zimmer war für die Hochzeit in Beschlag genommen worden.
Durch die Hintertür kam Pashinta mit einem Eimer Wasser herein. Tanuva rührte gemahlenen Reis in eine Schüssel mit Quark. Doch zuerst musste Ramita noch ein letztes Mal im Imuna baden. Sie wickelte sich in eine Decke, dann gingen sie durch die noch dunklen Gassen den vertrauten Weg hinunter zu den Ghats. In Lakh waren zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen auf der Straße: Betrunkene, die nach Hause stolperten, Diener, die die ersten Aufgaben des Tages erledigten, während ihre Herren noch schliefen, Händler, die auf dem Pflaster schliefen, um die Ware in ihren Ständen – manchmal nicht mehr als eine Decke auf dem Boden – zu bewachen. An einer Ecke stand eine Kuh, die ihnen gleichgültig nachschaute, als sie durch die rauchigen und vom Dunst des Flusses vernebelten Gassen gingen.
Weitere Frauen kamen aus den Türen der Häuser und schlossen sich ihnen an: Tanuvas Freundinnen, die bei den letzten Brautvorbereitungen helfen würden. Ramita kannte sie bereits ihr ganzes Leben, doch jetzt liebte sie diese Frauen, wollte eine von ihnen sein, mit ihnen gemeinsam alt werden. Aber die Götter hatten ihr bestimmt, mit einem unheimlichen Greis, der die Welt in den Abgrund gestürzt hatte, nach Norden zu gehen.
Zehn Frauen, denn Zehn war die glücklichste aller Zahlen, standen um Ramita, während sie ihr Nachthemd ablegte und in den Imuna watete. Das kalte Wasser umspielte ihre Beine, ihren Bauch, dann die Brüste und schließlich das Gesicht. Wasch mich fort, Imuna. Wasch mich hinfort und lass nur eine leere Hülle zurück.
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