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Die Brücke

Die Brücke

Titel: Die Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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– festgestellt habe, daß sich die Praxis
des Doktors immer noch da befindet, wo sie gestern war, und mein
Termin weder gestrichen noch verschoben worden ist (»Morgen, Mr.
Orr! Wie schön, Sie zu sehen! Ja, natürlich ist der
Doktor da. Hätten Sie gern eine Tasse Tee?«), sitze ich
hier in dem größeren Sprechzimmer des Doktors, bereit
für die Fragen meines Mentors.
    Beim Frühstück faßte ich den Entschluß,
wegen meiner Träume zu lügen. Wenn ich die ersten beiden
erfinden konnte, wird es mir schließlich nicht schwerfallen,
die anderen zu verheimlichen. Ich werde dem Doktor sagen, in der
letzten Nacht hätte ich keine Träume gehabt, und für
die Nacht davor werde ich mir einen ausdenken. Es hat keinen Sinn,
ihm zu erzählen, wovon ich wirklich geträumt habe. Eine
Analyse ist schön und gut, aber die Scham setzt ihr Grenzen.
    Der Doktor, wie gewöhnlich ganz in Grau, die Augen glitzernd
wie Splitter alten Eises, sieht mich erwartungsvoll an. »Ich
hatte drei Träume«, entschuldigte ich mich,
»beziehungsweise einen Traum in drei Teilen.«
    Dr. Joyce nickt, macht sich eine Notiz. »Hm-hmm. Fahren Sie
fort!«
    »Der erste ist sehr kurz. In einem großen,
palastartigen Gebäude sehe ich einen dunklen Korridor entlang
auf eine schwarze Wand. Alles ist in Schwarzweiß. Ein Mann
erscheint von der einen Seite; er geht langsam und schwer. Er ist
kahlköpfig, und seine Wangen wirken aufgeblasen. Ich kann keinen
Laut hören. Er trägt ein helles Jackett. Er geht von links
nach rechts, aber als er an der Stelle vorbeikommt, auf die ich
blicke, erkenne ich, daß die Wand hinter ihm in Wirklichkeit
ein großer Spiegel ist und sein Bild von einem zweiten Spiegel,
der irgendwo seitlich von mir sein muß, immer wieder und wieder
zurückgeworfen wird. Ich sehe also alle diese dicken,
schwerfälligen Männer in einer langen, langen Reihe in
präziserem Gleichschritt marschieren als Soldaten…«
Ich hebe den Blick zu den Augen des Doktors. Tiefes Atemholen.
    »Das Lächerliche ist, das Spiegelbild, das dem Mann am
nächsten ist, das erste also, ahmt ihn nicht nach. Für eine
Sekunde, nur für einen Augenblick, dreht es sich um und sieht
ihn an – es kommt nicht aus dem Schritt, nur der Kopf und die
Arme bewegen sich –, und es legt beide Hände auf den Kopf,
die Finger gespreizt, so…« – ich zeige es dem Doktor
–, »und wackelt mit ihnen, und dann ist es mit einem Ruck
wieder in der richtigen Position. Die widergespiegelte Reihe fetter
Männer marschiert aus meinem Gesichtsfeld. Der wirkliche Mann,
das Original, merkt nicht, was geschehen ist. Und… nun, das ist
alles.«
    Der Doktor schürzt die Lippen und verflicht seine
rosafarbenen knubbeligen Finger.
    »Haben Sie sich mit dem Mann im Meer an irgendeiner Stelle
ebenfalls identifiziert? Hatten Sie neben dem Gefühl, der Mann
in der Robe zu sein, der vom Strand aus zusah, irgendwann auch das
Gefühl, sie seien der andere? Wer war eigentlich der realere?
Der Mann am Strand scheint plötzlich verschwunden zu sein; der
Mann mit der Kettenpeitsche hörte auf, ihn zu sehen. Antworten
Sie jetzt nicht darauf. Denken Sie darüber nach, auch über
die Tatsache, daß der Mann, der Sie waren, keinen Schatten
warf. Fahren Sie fort, bitte. Von was handelt der nächste
Traum?«
    Ich sitze da und starre Dr. Joyce an. Der Mund steht mir
offen.
    Was hat er eben gesagt? Habe ich das gehört? Was habe ich gesagt? Mein Gott, das ist schlimmer als heute nacht. Ich
träume, und Sie sind etwas aus meinem Innern.
    »Wa… wa… Verzeihung? Was… woher wußten
Sie…?«
    Dr. Joyce sieht mich verwirrt an. »Wie bitte?«
    »Was Sie da gerade gesagt haben…« Meine Zunge
stolpert über die Wörter.
    »Tut mir leid.« Dr. Joyce nimmt seine Brille ab.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mr. Orr. Ich habe nichts
weiter gesagt als: ›Fahren Sie fort, bitte.‹«
    Gott, schlafe ich immer noch? Nein, ganz entschieden nicht, es hat
keinen Sinn, mir vorzumachen, dies sei ein Traum.
Weitermachen, durchhalten! Vielleicht geht es gleich vorüber,
ich fühle mich immer noch komisch, fieberig, das ist alles, mehr
kann es gar nicht sein. Vernebeltes Gehirn. Laß dich davon
nicht aus der Ruhe bringen, halte die Ohren steif, die Show muß
weitergehen.
    »Ja, ich – entschuldigen Sie bitte; es fällt mir
heute schwer, mich zu konzentrieren. Habe die Nacht nicht gut
geschlafen. Wahrscheinlich ist das der Grund, daß ich nichts
geträumt habe.« Ich lächle tapfer.
    »Natürlich.« Der gute Doktor setzt

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