Die Brücke
blieb er stehen und starrte mich
wieder an, dann sah er zu der Brücke flußabwärts von
sich. Er kletterte auf das Geländer, auf die Stangen und
über sie hinweg, und dann – nach nur einem ganz kurzen
Zögern – ließ er sich in den Fluß fallen. Das
Wasser schäumte rot auf; er schrie und ging unter.
Der Nebel kehrte zurück. Ich rief eine Zeitlang, aber weder
von flußaufwärts noch von flußabwärts kam eine
Antwort.
Ich renne jetzt. Gleichmäßig und schnell und
entschlossen. Schon seit mehreren Stunden. Die Damen wirken
beunruhigt; ich bin über drei von ihren mit Essen gefüllten
Tabletts weggerannt.
Meine Damen stehen da und beobachten mich, traurig und mit
großen Augen und irgendwie resigniert, als hätten sie das
alles schon einmal gesehen, als ende es immer auf diese Weise.
Ich renne und renne. Die Brücke und ich sind jetzt eins, Teil
des gleichen großen stetigen Mechanismus, ein Öhr, durch
das sich der Fluß fädelt. Ich werde rennen, bis ich
umfalle, bis ich sterbe, mit anderen Worten, für immer.
Meine Damen weinen jetzt, aber ich bin glücklich. Sie sind
gefangen, sie sitzen fest, sie beugen die Köpfe, aber ich bin
frei.
Ich wache schreiend auf, glaube, ich sei von Eis umschlossen, das
kälter ist als gefrorenes Wasser, so kalt, daß es brennt
wie geschmolzenes Gestein, und unter einem knirschenden, zermalmenden
Druck.
Der Schrei ist nicht mein eigener. Ich bin still, nur die
Blechfabrik kreischt. Ich ziehe mich an, stolpere zum Toilettenblock,
wasche mich. Ich trockne meine Hände an dem Taschentuch ab. Mein
Gesicht im Spiegel ist geschwollen und verfärbt. Ein paar
Zähne fühlen sich etwas loser an als vorher. Mein
Körper ist voller blauer Flecken, aber nichts ist ernstlich
beschädigt.
In dem Büro, wo ich mich melde, um meine Beihilfe zu
beantragen, entdecke ich, daß ich für den nächsten
Monat auf halbe Beihilfe gesetzt bin, um damit den Betrag abzuzahlen,
den ich für das Taschentuch und den Hut schuldig bin. Man gibt
mir ein bißchen Geld.
Ich werde an einen Gebrauchtkleiderladen verwiesen, wo ich einen
langen, abgenutzten Mantel kaufe. Wenigstens verdeckt er den
grünen Overall. Mein halbes Geld ist jetzt ausgegeben. Ich mache
mich auf den Weg zum nächsten Abschnitt, immer noch
entschlossen, Dr. Joyce zu sprechen, aber nicht lange, und mir wird
so schwach, daß ich eine Tram nehmen und für den
Fahrschein bar bezahlen muß.
»Die Unfallstation ist drei Stockwerke weiter unten, zwei
Blocks königreichwärts«, sagt der junge Empfangschef
zu mir, als ich in das Vorzimmer des guten Doktors komme. Er widmet
sich wieder seiner Zeitung; mir wird weder Kaffee noch Tee
angeboten.
»Ich möchte Dr. Joyce sprechen. Ich bin Mr. Orr. Sie
werden sich erinnern, daß wir gestern miteinander telefoniert
haben.«
Der junge Mann mustert mich mit perfekt klaren Augen müde von
oben bis unten. Er legt einen manikürten Finger an die glatte
Wange, saugt Luft durch leuchtend weiße, makellose Zähne.
»Mr… Orr?« Er dreht sich um und sieht in einem
Karteikasten nach.
Mir wird von neuem schwach. Ich setze mich auf einen der
Sessel.
Er sieht mich böse an. »Habe ich gesagt, Sie
dürften sich setzen?«
»Nein, habe ich deswegen um Erlaubnis gebeten?«
»Nun, ich hoffe, dieser Mantel ist sauber.«
»Werden Sie mich jetzt mit dem Doktor reden lassen oder
nicht?«
»Ich suche nach Ihrer Karteikarte.«
»Erinnern Sie sich an mich oder nicht?«
Er studiert mich sorgfältig. »Ja, aber Sie sind verlegt
worden, nicht wahr?«
»Bedeutet das wirklich einen solchen Unterschied?«
Er sieht seine Karteikarten durch, gibt dabei ein kleines,
ungläubiges Lachen von sich und schüttelt den Kopf.
»Ah, wußte ich’s doch.« Er zieht eine rote
Karte hervor und liest sie. »Sie sind verlegt worden.«
»Das habe ich bemerkt. Meine neue Adresse ist…«
»Nein, ich meine, Sie haben einen neuen Arzt.«
»Ich will keinen neuen Arzt. Ich will Dr. Joyce.«
»Ach ja?« Er lacht und tippt mit einem Finger auf die
rote Karte. »Nun, leider haben Sie da kein Mitspracherecht. Dr.
Joyce hat Sie an jemand anders überwiesen, und damit hat es
sich, und wenn es Ihnen nicht paßt, ist das eben Pech.« Er
steckt die rote Karte in den Kasten zurück. »Bitte gehen
Sie jetzt.«
Ich gehe an die Tür zum Sprechzimmer des Doktors. Sie ist
verschlossen.
Der junge Mann sieht nicht von seiner Zeitung auf. Ich versuche,
durch die Milchglasscheibe in der Tür zu sehen, dann klopfe ich
höflich. »Dr. Joyce?
Weitere Kostenlose Bücher