Die Brücken Der Freiheit: Roman
und er, Jay, hatte versucht, seinen Halbbruder Robert umzubringen. Doch nichts von alledem beschäftigte ihn jetzt. Er dachte nur an Lizzie. Ihr koboldhaftes Gesicht erschien ihm im Wasserdampf, der aus dem Bad aufstieg, und sah ihn mit keckem Lächeln an. In den Augenwinkeln zeigten sich Lachfalten. Spott, Versuchung und Herausforderung lagen in diesem Blick.
Er mußte daran denken, wie er sie den Schacht hinaufgetragen hatte: So weich und leicht war sie gewesen, so eng hatte er ihren Körper an seinem gespürt. Jay fragte sich, was sie wohl von ihm hielt. Gewiß hatte sie sich auch ein Bad richten lassen, konnte sie doch so schmutzig, wie sie war, kaum zu Bett gehen. Er stellte sie sich vor dem offenen Kamin in ihrem Zimmer vor, nackt, mit Seifenschaum bedeckt. Er wollte bei ihr sein, ihr den Schwamm aus der Hand nehmen und ihr den Kohlestaub von den vollen Brüsten wischen. Die Vorstellung erregte ihn so sehr, daß er aus der Wanne sprang und sich eilends mit einem rauhen Handtuch trockenrieb.
Er war nicht müde. Er wollte mit irgend jemandem über das nächtliche Abenteuer reden, doch Lizzie würde jetzt wahrscheinlich stundenlang schlafen. Jay dachte an seine Mutter. Ihr konnte er vertrauen. Manchmal trieb sie ihn zu Dingen, die eigentlich nicht seiner Neigung entsprachen, aber sie stand immer auf seiner Seite.
Er rasierte sich, zog sich frische Kleider an und machte sich auf den Weg zu ihr. Wie erwartet, war sie bereits wach. Sie saß an ihrem Schminktisch, nippte an einer Tasse Schokolade und wurde gerade von ihrer Zofe frisiert. Als Jay eintrat, lächelte sie ihm zu. Er gab ihr einen Kuß und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie war hübsch, selbst in dieser frühen Morgenstunde, doch hinter der schönen Fassade verbarg sich eine stählerne Seele.
»Warum bist du schon so früh auf den Beinen?« fragte sie ihren Sohn, nachdem sie die Zofe entlassen hatte.
»Ich war noch gar nicht im Bett. Ich war in der Grube.«
»Mit Lizzie Hallim, wie?«
Sie ist wirklich klug, dachte Jay liebevoll. Sie weiß immer genau, was ich vorhabe… Er hatte nichts dagegen, denn sie machte ihm niemals Vorwürfe. »Woher weißt du das?« fragte er.
»Ich konnte es mir denken. Sie wollte ja unbedingt hinunter, und wenn sich ein Mädchen wie sie einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann läßt es sich durch ein Nein nicht beirren.«
»Es war ein ungünstiger Tag für einen Besuch dort unten. Es kam zu einer Explosion.«
»O Gott! Ist euch etwas passiert?«
»Nein…«
»Ich werde auf jeden Fall Dr. Stevenson kommen lassen…«
»Mach dir keine Sorgen, Mutter, es besteht kein Anlaß. Ich war schon draußen, als es knallte. Und Lizzie ebenfalls. Ich bin nur ein wenig schwach in den Knien, weil ich sie die Schachttreppe hinaufgetragen habe.«
Mutter beruhigte sich. »Und wie war Lizzies Eindruck?«
»Sie wird niemals zulassen, daß auf dem Grund und Boden der Hallims Kohle gefördert wird. Das hat sie geschworen.«
Alicia lachte. »Und dein Vater giert geradezu danach. Na, ich bin gespannt, wie diese Schlacht ausgehen wird. Wenn Robert mit ihr verheiratet ist, kann er gegen ihren Willen entscheiden theoretisch zumindest. Aber sag einmal, Jay, macht die Brautwerbung deiner Meinung nach Fortschritte?«
»Flirten ist, milde gesagt, nicht gerade Roberts Stärke«, antwortete Jay verächtlich.
»Aber deine, nicht wahr?« gab sie nachsichtig zurück.
Jay zuckte mit den Schultern. »Er tut sein Bestes, täppisch wie er ist.«
»Dann wird sie ihn vielleicht gar nicht heiraten.«
»Es wird ihr wohl nichts anderes übrigbleiben.«
Seine Mutter sah ihn kritisch an: »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?« »Lady Hallim hat Probleme mit der Verlängerung ihrer Hypotheken. Vater hat das so arrangiert.«
»Ach ja? Oh, wie verschlagen er ist!«
Jay seufzte. »Miss Hallim ist ein wunderbares Mädchen. Sie hätte etwas Besseres verdient als Robert.« Mutter legte ihm die Hand aufs Knie. »Jay, mein lieber Junge, noch gehört sie Robert nicht.«
»Möglich. Vielleicht heiratet sie einen anderen.«
»Vielleicht heiratet sie dich.«
»Mutter!« Er hatte Lizzie zwar geküßt, aber an Heirat hatte er nicht zu denken gewagt.
»Du bist in sie verliebt, das merke ich doch.«
»Das nennt man also… Liebe?«
»Ja, natürlich. Deine Augen leuchten auf, sobald ihr Name fällt, und wenn sie im Zimmer ist, siehst du nur noch sie.«
Sie hatte präzise beschrieben, wie ihm zumute war. Er konnte ihr nichts
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