Die Brücken Der Freiheit: Roman
bitterkalt sein. Unvorstellbar, wie man darin schwimmen konnte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Lizzie wußte, daß sie sich eigentlich zurückziehen sollte. Blieb sie hier und sah zu, wie dieser nackte Mann den Fluß überquerte, würde es Ärger geben, soviel stand fest. Doch ihre Neugier war stärker als alle Bedenken, und so blieb sie reglos stehen und verfolgte den Kopf des Schwimmers auf seinem Weg durch den Fluß. Die starke Strömung zwang ihn in eine Diagonale, doch seine Geschwindigkeit blieb gleichmäßig; er war offenbar sehr kräftig. Es war abzusehen, daß er ungefähr zwanzig oder dreißig Meter flußaufwärts von Lizzies Standort ans Ufer kommen würde.
Er hatte ungefähr die Mitte des Flusses erreicht, als das Unglück geschah. Lizzie sah einen großen, dunklen Gegenstand im Wasser, der von hinten her auf den Schwimmer zuschoß, und erkannte Sekunden später, daß es sich um einen treibenden Baumstamm handelte. Der Schwimmer bemerkte ihn offenbar erst, als er bereits über ihm war. Ein dicker Ast traf ihn am Kopf, und seine Arme verhedderten sich im Gewirr der Zweige. Plötzlich verschwand der Kopf unter Wasser. Lizzie hielt den Atem an. Wie gebannt suchte sie im Astwerk nach einem Lebenszeichen des Mannes, von dem sie noch immer nicht genau wußte, ob es McAsh war oder nicht. Der Baum kam näher, doch von dem Schwimmer war nichts zu sehen. »Du darfst nicht ertrinken, bitte!« flüsterte sie. Der Baum zog an ihr vorbei, und nach wie vor war der Schwimmer spurlos verschwunden. Lizzie überlegte, ob sie Hilfe holen sollte, aber das Schloß lag eine Viertelmeile entfernt. Bis sie zurückkam, würde der Mann im Wasser, ob tot oder lebendig, weit abgetrieben sein. Aber was sonst konnte sie tun? Sie war noch immer wie gelähmt von ihrer Unentschlossenheit, als der Schwimmer ein paar Meter hinter dem treibenden Baumstamm wieder auftauchte.
Es kam Lizzie wie ein Wunder vor, daß er nach wie vor sein Bündel auf dem Kopf trug. Doch von den gleichmäßigen Schwimmzügen, die den Mann zuvor ausgezeichnet hatten, konnte jetzt keine Rede mehr sein: Er schlug mit Armen und Beinen um sich, schnappte hektisch nach Luft, spuckte und hustete. Lizzie ging ans Ufer. Eiskaltes Wasser sickerte durch ihre Seidenschuhe und ließ ihre Füße erstarren. »Hierher!« rief sie. »Ich zieh' Sie raus!« Er schien sie nicht zu hören, sondern schlug nach wie vor um sich, als könne er, dem Tod durch Ertrinken knapp entronnen, nur noch ans Luftschnappen denken und an nichts sonst. Doch dann schien er sich zu beruhigen, bemühte sich jedenfalls darum, sah sich um, versuchte sich zu orientieren. Und wieder rief Lizzie ihm zu: »Hierher! Ich helfe Ihnen!« Der Kopf verschwand im Wasser, tauchte auf, der Schwimmer rang nach Luft, hustete, keuchte - aber er hatte Lizzie jetzt wahrgenommen und hielt auf sie zu.
Lizzie Hallim kniete auf dem vereisten Uferschlamm und achtete nicht auf ihr Seidenkleid and den teuren Pelz. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Als der Schwimmer in Reichweite kam, streckte sie die Hand aus, doch seine Hände fuchtelten nur ziellos durch die Luft. Zuerst bekam sie ihn am Handgelenk zu fassen, dann packte sie mit beiden Händen den Arm und zog und zog. Halb auf der Uferböschung, halb noch im Wasser kippte der nackte Mann auf die Seite und brach zusammen. Lizzie faßte ihn jetzt unter den Armen, stemmte ihre Füße mit den feinen Schuhen tief in den Schlamm und wuchtete ihn hoch. Der Mann half mit Händen und Füßen ein wenig nach, und endlich, endlich glitt er heraus aus dem Wasser und kam auf die Böschung zu liegen.
Lizzie starrte ihn an. Halbtot, nackt und pudelnaß lag er vor ihr wie ein Meeresungeheuer, das von einem fischenden Riesen an Land gezogen wurde. Und jetzt bestätigte sich auch ihre Vermutung: Der Mann, dem sie das Leben gerettet hatte, war Malachi McAsh.
Sie schüttelte staunend den Kopf. Was war das für ein Mann? In den vergangenen zwei Tagen hatte er eine Gasexplosion und eine grausame Folter überstanden - und besaß noch immer den Mut und die Kraft, sich in den eiskalten Fluß zu stürzen, um seinen Widersachern zu entrinnen. Er gab einfach nicht auf.
Jetzt lag er vor ihr auf dem Rücken und schlotterte unkontrollierbar am ganzen Leibe. Der Eisenring, den er um den Hals getragen hatte, war fort, und Lizzie fragte sich, wie er ihn losgeworden war. Die nasse Haut schimmerte im Mondschein. Zum erstenmal sah sie einen nackten Mann. Trotz der Sorge um sein Leben empfand sie beim
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