Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
zum Aufmarsch blasen. Die unwillige Versammlung ließ sich extra viel Zeit und sah ihn finster an. Allen war klar, worum es ging.
Er wartete, dass es still wurde, aber das missmutige Gemurmel nahm kein Ende. Schließlich hob er zu sprechen an, und sofort verstummten auch die letzten Unzufriedenen. Er teilte ihnen nämlich mit, dass es erlaubt sei, Habseligkeiten und die Stiefel der Toten zu konfiszieren. Er brauche zweihundert Freiwillige.
Es meldeten sich bedeutend mehr Freiwillige, und schließlich musste er die Zahl der hoffnungsfrohen Plünderer begrenzen. Er bedachte nicht, dass er gerade die Todesstrafe für Plünderung im deutschen Heer in Afrika aufgehoben
hatte. Er wusste nicht einmal, ob er diese Befugnis besaß, und noch viel weniger, welche Konsequenzen diese Entscheidung für ihn selbst haben könnte. Tausend verwesende Inder mussten unter die Erde gebracht werden, darum kamen sie nicht herum.
Die Hälfte der Männer wurde dazu eingeteilt, einen langen, zwei Meter breiten und zwei Meter tiefen Graben auszuheben, die andere Hälfte schickte er in Zweiergruppen mit je einer Trage los, um die Gegend abzusuchen und die Toten einzusammeln.
Bald zeigte sich ein entscheidender Schwachpunkt in seinem Plan. Die Männer, die die Toten zusammentragen sollten, waren rasch mit Stiefeln und Kleiderbündeln überladen und konnten ihrer eigentlichen Aufgabe kaum noch nachkommen. Und diejenigen, die die Grube ausheben mussten, waren äußerst ungehalten über die Ungerechtigkeit. Die Anweisungen mussten geändert werden.
Alles, was den gefallenen Indern abgenommen wurde, sollte neben dem Massengrab auf einen Haufen gelegt werden. Die Verteilung würde dann nach Abschluss der Arbeit erfolgen.
Bald erkannte Oscar jedoch, dass auch damit nicht viel erreicht war. Die indischen Soldaten waren in der Regel arm. Aber der eine oder andere hatte doch irgendwelche Reserven besessen, die er in Form von in den Gürtel eingenähten Goldmünzen bei sich getragen hatte. Große Gegenstände wie Stiefel, Waffen und Uniformröcke stapelten die Askari-Soldaten ordentlich neben dem Massengrab auf. Kleinere Gegenstände steckten sie ein, wie Oscar bei einem Kontrollrundgang auffiel.
Im ersten Moment erwog er, nach Beendigung der
Arbeit alle Männer durchsuchen zu lassen, aber diesen Gedanken verwarf er rasch, denn was sollte er mit den Dieben tun? Sie erschießen lassen?
Das Problem ließ sich nur auf eine Art lösen. Er fand es fast peinlich, dass ihm das nicht schon eher eingefallen war. Zum einen tat er so, als bekäme er nichts mit, zum anderen bestand er darauf, dass sich die Arbeiter nach der halben Zeit abwechselten. So hätten alle die gleiche Chance, die indischen Leichen zu plündern.
Es war erbärmlich, traurig, herzzerreißend, ein Ausdruck menschlicher Erniedrigung, wie er ihn noch vor wenigen Monaten in Deutsch-Ostafrika für unmöglich gehalten hätte.
Aber tausend verwesende Leichen stellten eine ernsthafte Seuchengefahr dar, die die Engländer selbst nicht heimsuchen würde. Die Arbeit musste unbedingt erledigt werden. So gesehen konnte man schon mal Zugeständnisse machen und Plünderung zulassen. Den Leichen die Stiefel von den Füßen zu reißen war eine Sache, aber ihnen die Taschen zu durchwühlen oder jedem Offizier auf der Suche nach Gold gewaltsam den Mund zu öffnen war etwas ganz anderes. Aber schließlich war Krieg.
Die Garnison in Tanga wurde verstärkt, da man damit rechnete, dass die Engländer einen weiteren Versuch machen würden, die Stadt einzunehmen. Die nächste Schiffsladung seekranker Inder würde früher oder später eintreffen. Die deutsche Haupttruppe kehrte mit der Bahn nach Moshi zurück, um den Regen abzuwarten, der jeden Krieg zum Erliegen bringen würde.
Als sie in der Offiziersmesse in Moshi Weihnachten feierten, war die Stimmung ausgelassen. Die Brauerei Schultze
in Dar hatte ihre Produktion nicht verringert. Es gab ausreichend Bier und Proviant. Die Verluste hielten sich bislang in Grenzen, und sie hatten den Krieg im ersten Jahr gewonnen.
In der Silvesternacht, die das Jahr 1915 einleitete, wurde die neue Hymne, die Oscar bisher noch nie gehört hatte, gesungen:
Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt …
XXII
OSCAR
Deutsch-Ostafrika, 1915 bis 1917
Oscars Zeit als Brückenbauer war definitiv vorbei. Der Generalstab hatte ihn Werner Schönfeldts Sabotagetruppe zugeteilt, die den Auftrag hatte, Brücken und Eisenbahnlinien zu sprengen. Als er begriffen
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