Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
bis er sich von seiner mentalen Lähmung befreien konnte, was dem Jungen offenbar nicht entging. Er begriff, dass Oscar nicht gewusst hatte, dass der Krieg vorüber war.
»In dem Beiwagen habe ich Nachrichten und Depeschen über alle Ereignisse der letzten Woche«, meinte der Junge eifrig. »Alles. Das Nachbarregiment muss eingehend informiert werden, denn sie wissen bislang nur, dass Waffenstillstand herrscht.«
Als Oscar Kadimba die Worte übersetzte, erhielt er nur ein Lächeln und ein zweifelndes Kopfschütteln zur Antwort. Dann hängte sich Kadimba den Riemen seines Gewehrs über die Schulter und breitete die Hände aus.
»Dann müssen wir dem Jungen halt seine Papiere wegnehmen und sie so schnell wie möglich zum Stützpunkt bringen«, meinte er.
Oscar dachte nach. Kadimba hatte natürlich vollkommen recht.
»Wie heißt du, junger Mann?«, fragte er dann in normalem Gesprächston.
»Piet Jungs! Sergeant der 1st South African Mounted Brigade , Herr Hauptmann!«, antwortete der Junge und nahm
Haltung an. Er war ganz offenbar aufgeweckt, da er Oscars neuen Dienstgrad zur Kenntnis genommen hatte.
»Sehr gut, Piet! Dann machen wir Folgendes: Wir konfiszieren jetzt deine Depeschen, weil wir sie viel dringender brauchen als deine Kollegen vom nächsten Regiment. Du kehrst zu deinen Vorgesetzten zurück und erstattest Bericht. Verstanden?«
»Verstanden, Herr Hauptmann!«
»Ausgezeichnet. Dann überlass uns die Papiere und fahr vorsichtig!«
Sie nahmen eine dicke Mappe aus braunem Leder entgegen und warfen einen Blick in den Beiwagen, um sich davon zu überzeugen, dass dort nichts mehr lag. Als der junge Mann sein Motorrad nervös wieder anließ, mit einiger Mühe wendete und in die Richtung zurückfuhr, aus der er gekommen war, salutierten sie.
»Schlimmstenfalls ist in einer Stunde eine ganze Kompanie Fußsoldaten hinter uns her«, murmelte Kadimba unwirsch.
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Oscar nachdenklich. »Ich glaube, der Junge hat die Wahrheit gesagt. Sonst hätte er ein ungewöhnlich guter Schauspieler sein müssen. Der Krieg ist zu Ende. Das glaube ich. Und deswegen werden uns die Südafrikaner nicht verfolgen.«
»In einer Stunde ist er in seinem Lager, das heißt, dass sie von da an gerechnet in noch einmal einer Stunde die Verfolgung aufnehmen können«, wandte Kadimba zweifelnd ein.
»Ja, aber dann haben wir zwei Stunden Vorsprung, und in vier Stunden wird es dunkel. Die Erde ist hart, und es bleiben fast keine Spuren zurück. Uns beide würden sie ja
doch nie einholen«, meinte Oscar unbekümmert, schob die Mappe in Kadimbas Rucksack und hängte sich sein Gewehr über die Schulter.
Ohne Eile schritten sie auf offenem Gelände voran, dann begaben sie sich in einen immer dichter werdenden Wald. Hier drehten sie sicherheitshalber ein paar Runden, um eventuelle Verfolger zu verwirren, und setzten dann ihren Weg Richtung Westen fort, dem Sonnenuntergang entgegen.
Kadimba ließ sich zu guter Letzt davon überzeugen, dass es keine Falle war und dass der Junge nicht beabsichtigt hatte, mit falschen Informationen gefangen genommen zu werden. Zum einen, so erklärte Oscar, hätte es keine Garantien dafür gegeben, dass der in diesem Fall sehr begabte Schauspieler überlebt hätte. Für gewöhnlich wurden gefangen genommene Kuriere erschossen. Außerdem mussten die Besiegten darauf bedacht sein, das Kriegsrecht einzuhalten. Schließlich wollten die Rotnacken doch wohl nicht vor ein deutsches Militärgericht gestellt werden, weil sie gegen den Waffenstillstand verstoßen hatten?
Da er sich nichts anderes vorstellen konnte, ging Oscar davon aus, dass Deutschland wegen seines technischen Vorsprungs und seiner besseren Soldaten endlich gesiegt hatte.
Dieser Meinung war auch von Lettow-Vorbeck, als er am nächsten Morgen seinem Stab die Mappe mit den südafrikanischen Depeschen überreichte. Seine erste Schlussfolgerung war, dass der Haupttrupp so schnell wie möglich nach Daressalam ziehen musste, um sich dort um die kapitulierenden ausländischen Truppen zu kümmern. Sofern diese nicht mit eingekniffenem Schwanz aus dem Land flüchteten.
Erst würde man aber noch die wichtigen Neuigkeiten genauer studieren müssen.
Es dauerte über zwei Stunden, bis einer der höheren Stabsoffiziere wieder zum Vorschein kam. Paul von Lettow-Vorbeck war der Erste, der das Stabszelt wieder verließ. Er rief einen Trompeter, der zum allgemeinen Appell blies. Er war kreidebleich im Gesicht.
Es dauerte eine
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