Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brüder Karamasow

Die Brüder Karamasow

Titel: Die Brüder Karamasow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
Warwinski, der als dritter befragt wurde. Nach seiner Ansicht befand sich der Angeklagte jetzt wie auch früher in völlig normalem Zustand; und wenn er vor seiner Festnahme tatsächlich sehr nervös und aufgeregt gewesen sei, so könne das von vielen sehr einleuchtenden Ursachen herrühren: Eifersucht, Zorn, Trunkenheit und so weiter. Aber dieser nervöse Zustand habe keinerlei besonderen »Affekt« auslösen können, wie das soeben gesagt worden sei. Was schließlich die Frage beträfe, ob der Angeklagte beim Eintritt in den Saal nach links oder nach rechts hätte sehen müssen, so habe er »nach seiner bescheidenen Meinung« vielmehr gerade vor sich hin blicken müssen, wie er es in Wirklichkeit auch getan hatte, denn vor ihm saßen der Präsident und die Mitglieder des Gerichts, von denen jetzt sein ganzes Schicksal abhing. »Somit hat er, eben indem er vor sich hin sah, seinen vollkommen normalen Geisteszustand in dem betreffenden Moment bewiesen«, schloß der junge Arzt mit einer gewissen Wärme.
    »Bravo, Arzt!« rief Mitja von seinem Platz aus. »Genauso ist es!«
    Mitja wurde natürlich zur Ordnung gerufen, aber die Meinung des jungen Arztes übte eine entscheidende Wirkung auf Gericht und Publikum aus; wie sich später herausstellte, waren alle mit ihm einverstanden. Als Doktor Herzenstube noch einmal, nunmehr in seiner Eigenschaft als Zeuge, vernommen wurde, machte er eine Aussage, die dem Angeklagten zum Vorteil gereichte. Als alter Einwohner der Stadt, der die Familie Karamasow schon lange kannte, lieferte er zunächst einiges für die »Anklage« sehr interessante Material und fügte dann wie nach einigem Nachdenken überraschend hinzu: »Und doch hätte der arme junge Mensch ein unvergleichlich besseres Schicksal haben können, denn er hatte immer ein gutes Herz, das weiß ich. Aber ein russisches Sprichwort sagt: ›Wenn jemand einen Verstand hat, so ist das gut. Doch wenn noch ein kluger Mensch zu ihm zu Besuch kommt, ist es noch besser. Dann sind zwei Verstande, und nicht bloß einer ...«
    »Ein Verstand ist gut, zwei sind besser«, korrigierte der Staatsanwalt ungeduldig, der die Gewohnheit des Alten kannte, langsam und weitschweifig zu sprechen, unbekümmert darum, welchen Eindruck das auf die Zuhörer machte und wie lange andere warten mußten, bis er fertig war; er selbst hielt seinen steifen, immer fröhlich-selbstzufriedenen deutschen Humor für etwas sehr Schönes.
    »O ja, das sage ich ja auch«, redete er hartnäckig weiter. »Ein Verstand ist etwas Gutes, doch zwei sind weit besser. Aber zu ihm kam kein anderer, der Verstand gehabt hätte, und da ließ er denn seinen eigenen ... Wie heißt das doch, was ließ er ihn gehen? Dieses Wort, was er seinen Verstand gehen ließ, das habe ich vergessen, im Deutschen nennen wir es ›spazierengehen‹.«
    »Im Russischen drückt man sich so ähnlich aus.«
    »Nun ja, spazierengehen, das sage ich ja. Da ging also nun sein Verstand spazieren und geriet an eine tiefe Stelle, in der er dann umkam. Dabei war er ein empfänglicher, dankbarer junger Mensch. Oh, ich erinnere mich noch, wie er ein ganz kleiner Junge war. Sein Vater hatte ihn auf den Hof verbannt, und da lief er ohne Schuhchen umher und mit Höschen, die nur an einem Knopf hingen ...«
    In der Stimme des alten Mannes lag ein warmes Mitgefühl und eine gewisse Rührung. Fetjukowitsch zuckte zusammen, als ob er etwas ahnte, und horchte mit größter Spannung.
    »O ja, ich selbst war damals noch ein junger Mensch ... Ich war damals fünfundvierzig [fünfundzwanzig?] Jahre alt, war eben erst hierhergekommen. Das Jüngelchen tat mir damals so leid, und ich fragte mich: Warum soll ich ihm nicht etwas kaufen? Das beste ist, ich kaufe ihm ein Pfund ... Nun ja, ein Pfund was? Ich habe vergessen, wie man das nennt ... Ein Pfund von dem, was die Kinder so gern essen, wie heißt das nur ... Na, wie heißt das nur ... Es wächst auf dem Baum, man sammelt es und schenkt es allen Leuten ...«
    »Apfel?«
    »O nein! Ein Pfund, ein Pfund! Äpfel werden nach Stück verkauft, nicht pfundweise ... Nein, es sind viele, und sie sind ganz klein. Man steckt sie in den Mund, und kr-r-rach ...«
    »Nüsse?«
    »Na ja, Nüsse das sage ich doch!« stimmte der Doktor in der ruhigsten Art und Weise zu, als hätte er kein bißchen nach dem Wort gesucht. »Ich brachte ihm also ein Pfund Nüsse, denn dem Knaben hatte noch nie jemand ein Pfund Nüsse gebracht. Ich hob meinen Finger und sagte zu ihm: ›Junge, paß mal

Weitere Kostenlose Bücher