Die Brüder Karamasow
unglücklichen, nervlich überreizten, eifersüchtigen Menschen sofort bei dem Gedanken gepackt hatte, daß sie ihn betrogen hatte und jetzt bei seinem Nebenbuhler Fjodor Pawlowitsch war; er schloß damit, daß er die Aufmerksamkeit auf die verhängnisvolle Macht des Zufalls lenkte: »Hätte ihm die Magd gesagt, daß sich seine Geliebte mit ihrem ›Früheren‹ in Mokroje befand, so wäre nichts geschehen. Aber sie war vor Angst ganz benommen und schwor hoch und heilig, sie wisse nichts. Und wenn der Angeklagte sie damals nicht gleich totschlug, so nur deshalb nicht, weil er Hals über Kopf der nachstürzte, die ihn betrogen hatte. Aber beachten Sie bitte: Obwohl er so außer sich war, griff er sich doch den Messingstößel und nahm ihn mit. Warum gerade den Stößel, warum nicht irgendeinen anderen Gegenstand, der als Waffe dienen konnte? Wenn wir uns dieses Bild schon einen Monat lang ausgemalt und uns darin eingelebt haben und uns dann auf einmal irgendein waffenähnliches Ding vor Augen kommt, so ergreifen wir es, um es als Waffe zu benutzen. Daß aber irgendein derartiger Gegenstand als Waffe dienen kann, das haben wir uns schon einen ganzen Monat überlegt. Eben deshalb haben wir ihn denn auch sofort und ohne zu zweifeln als brauchbare Waffe erachtet! Und daher kann man das Ergreifen dieses Stößels nicht als unbewußte Handlung bezeichnen. Und nun ist er in dem väterlichen Garten: Die Luft ist rein, Zeugen gibt es nicht, es gibt nur tiefe Nacht und Finsternis und Eifersucht! Der Verdacht, daß sie dort ist, bei seinem Nebenbuhler, in seinen Armen, und vielleicht in diesem Augenblick über ihn lacht – dieser Verdacht verschlägt ihm den Atem. Und es ist kein bloßer Verdacht mehr – wie kann man da noch von Verdacht reden? Der Betrug ist offensichtlich: Sie ist da in diesem Zimmer, aus dem das Licht kommt, sie ist bei ihm dort hinter dem Wandschirm – und da schleicht der Unglückliche zum Fenster, blickt respektvoll hinein, fügt sich wohlgesittet, geht vernünftig davon und entfernt sich so schnell wie möglich von der Sünde, damit ja nichts Unrechtes und Gefährliches geschehe? Das will man uns einreden, uns, die wir den Charakter des Angeklagten kennen, die wir verstehen, in welchem Gemütszustand er sich befinden mußte, einem Gemütszustand, der uns aus den Tatsachen bekannt ist? Und vor allem: so soll er sich benommen haben, obgleich er die Signale kannte, mit deren Hilfe er sofort in das Haus eindringen konnte!« Bei der Erwähnung der Signale unterbrach Ippolit Kirillowitsch die Anklagerede für einige Zeit und hielt für nötig, sich über Smerdjakow zu verbreiten, um den sich episodenhaft aufdrängenden Verdacht, Smerdjakow könnte den Mord begangen haben, gründlich zu behandeln und ein für allemal zu erledigen. Er tat das sehr umständlich, und alle begriffen, daß er trotz aller Geringschätzigkeit, die er gegen diese Annahme an den Tag legte, sie dennoch für wichtig hielt.
8. Der Traktat über Smerdjakow
»Zunächst: Wie hat ein solcher Verdacht überhaupt entstehen können?« Mit dieser Frage begann Ippolit Kirillowitsch. »Der erste, welcher rief, Smerdjakow habe den Mord begangen, war der Angeklagte selbst, und zwar im Augenblick seiner Verhaftung; dennoch hat er bis jetzt nicht eine einzige Tatsache als Beweis für seine Anschuldigung vorgebracht, ja nicht einmal eine halbwegs vernünftige Andeutung einer Tatsache. Außerdem haben nur noch drei Personen diese Beschuldigung erhoben – die beiden Brüder des Angeklagten und Fräulein Swetlowa. Aber der ältere der beiden Brüder hat seinen Verdacht erst heute im Nervenfieber, in einem Anfall eindeutiger Geistesstörung ausgesprochen, während er früher, wie uns positiv bekannt ist, die Überzeugung von der Schuld seines Bruders vollständig geteilt und nichts gegen diesen Gedanken einzuwenden versucht hat. Doch damit werden wir uns später noch besonders beschäftigen. Ferner hat uns der jüngste Bruder des Angeklagten vorhin selbst erklärt, daß er zur Unterstützung seiner Ansicht von der Schuld Smerdjakows keine Tatsachen anführen könne, nicht die geringsten; er schließe das nur aus den Worten des Angeklagten selbst und ›aus dessen Gesichtsausdruck‹ – und diesen kolossalen Beweis brachte er sogar zweimal vor. Fräulein Swetlowa drückte sich vielleicht sogar noch kolossaler aus: ›Was der Angeklagte Ihnen sagt, das können Sie glauben! Lügen widerspricht seinem ganzen Wesen.‹ Das sind alle faktischen Beweise gegen
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