Die Brueder Karamasow
einzige Minute ihrer Liebe das ganze übrige Leben auf, auch wenn es in den Qualen der Schande zugebracht wird? Diese ungestüme Frage ließ sein Herz erzittern. ›Zu ihr will ich, zu ihr allein, sie sehen, sie hören, an nichts denken, alles vergessen, wenn auch nur für diese Nacht, für eine Stunde, für einen Augenblick!‹ Vor dem Eingang zum Flur, noch auf der Galerie, stieß er mit dem Wirt Trifon Borissowitsch zusammen. Dieser machte auf ihn einen finsteren und besorgten Eindruck; wie es schien, kam er ihn suchen.
»Was gibt es, Trifon Borissowitsch? Suchst du mich?«
»Nein, Sie nicht«, erwiderte der Wirt offenbar erschrocken. »Warum sollte ich Sie suchen? Aber ... Wo waren Sie denn?«
»Warum machst du so ein trübsinniges Gesicht? Bist du ärgerlich? Warte nur, du wirst bald schlafen gehen können ... Wie spät ist es?«
»Es wird drei Uhr sein, oder sogar noch später.«
»Wir wollen Schluß machen!«
»Aber ich bitte Sie, das hat ja nichts zu sagen. Solange es Ihnen beliebt ...«
›Was hat er nur?‹ dachte Mitja flüchtig und lief in das Zimmer, wo die Mädchen tanzten. Aber sie war nicht dort. In dem blauen Zimmer war sie auch nicht, dort schlief nur Kalganow auf dem Sofa. Mitja blickte hinter den Vorhang – da war sie. Sie saß in einer Ecke auf einem Kasten, hatte Arme und Kopf auf das danebenstehende Bett gelegt und weinte bitterlich, wobei sie sich nach Kräften zu beherrschen suchte und ihre Stimme unterdrückte, um nicht gehört zu werden. Als sie Mitja sah, winkte sie ihn zu sich heran, und als er bei ihr war, ergriff sie fest seine Hand.
»Mitja, Mitja, ich habe ihn ja geliebt!« begann sie flüsternd. »Ich habe ihn geliebt, die ganzen fünf Jahre, die ganze Zeit. Habe ich ihn geliebt oder nur meinen Zorn? Nein, ihn selbst! Ihn selbst! Ich lüge ja, wenn ich sage, daß ich nur meinen Zorn geliebt habe und nicht ihn! Mitja, ich war damals erst siebzehn Jahre alt, er war so freundlich zu mir, so heiter, Lieder hat er mir vorgesungen. Oder ist er mir damals nur so erschienen, weil ich noch ein dummes kleines Mädchen war? Aber jetzt, o Gott, jetzt ist er ein anderer, ein ganz anderer. Auch das Gesicht ist anders, völlig anders... Ich habe ihn gar nicht wiedererkannt. Ich fuhr mit Timofej hierher und dachte immerzu, während der ganzen Fahrt: Wie werde ich ihm entgegentreten, was werde ich sagen, wie werden wir einander ansehen? Meine Seele wollte vergehen, und da hat er mich wie aus einem Kübel mit Schmutz übergossen. Wie ein Schulmeister redet er, alles ist gelehrt und würdevoll, er empfing mich so feierlich, ich war ganz verblüfft. Ich konnte kein Wort herausbringen. Ich dachte anfangs, vielleicht geniert er sich vor seinem langen Begleiter. Ich saß da und sah die beiden an und dachte: Warum kann ich denn jetzt gar nicht mehr mit ihm reden? Weißt du, seine Frau hat ihn verdorben, die, die er heiratete, nachdem er mich im Stich gelassen hatte ... Die hat ihn so umgewandelt. Ach, Mitja, diese Schmach! Oh, ich schäme mich, Mitja, ich schäme mich meines ganzen Lebens! Verflucht, verflucht sollen diese fünf Jahre sein, verflucht!« Und sie brach wieder in Tränen aus, ließ aber Mitjas Hand nicht los, sie hielt sie fest in ihrer.
»Mitja, Täubchen, warte, geh nicht fort, ich will dir ein einziges Wörtchen sagen«, flüsterte sie und hob auf einmal das Gesicht zu ihm auf. »Sag mir doch, wen liebe ich? Ich liebe hier einen einzigen Menschen. Wer ist dieser Mensch? Das sollst du mir sagen.« Auf ihrem vom Weinen geschwollenen Gesicht erstrahlte ein Lächeln, ihre Augen glänzten im Halbdunkel. »Vorhin kam ein Falke herein, da bekam mein Herz einen süßen Schreck. ›Du Närrin, das ist doch der, den du liebst!‹ flüsterte mein Herz. Du bist hereingekommen und hast alles erleuchtet. ›Aber was fürchtet er nur?‹ dachte ich. Denn du hattest Furcht, große Furcht, du warst nicht imstande zu sprechen. ›Er wird sich doch nicht vor denen hier fürchten?‹ dachte ich – als oh du vor jemand Angst haben könntest. ›Vor mir fürchtet er sich!‹ dachte ich. Nur vor mir ... Fenja hat dir großem Dummkopf ja sicher erzählt, daß ich deinem Bruder Aljoscha aus dem Fenster zugerufen habe, ich hätte Mitenka ein Stündchen geliebt, doch jetzt sei ich weggefahren, um einen anderen zu lieben ... Mitja, Mitja, wie konnte ich bloß glauben, daß ich nach dir einen anderen lieben würde! Verzeihst du mir, Mitja? Verzeihst du mir oder nicht? Liebst du mich? Liebst du mich?«
Sie
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