Die Brueder Karamasow
Aufenthalts bei uns mehrere höchst beleidigende Äußerungen über die Befähigung von Doktor Herzenstube erlaubt hatte. Die Sache war die: Der Moskauer Arzt nahm zwar für einen Besuch nicht weniger als fünfundzwanzig Rubel, dennoch freuten sich manche Leute in unserer Stadt über den Zufall, der ihn zu uns geführt hatte, ließen sich das Geld nicht leid tun und bestürmten ihn mit Bitten um seinen Rat. Alle diese Kranken hatte vor ihm natürlich Doktor Herzenstube behandelt, und nun kritisierte der berühmte Arzt überall dessen Heilmethode mit großer Schärfe. Zuletzt fragte er sogar, sobald er zu einem Kranken kam, geradezu: »Nun, wer hat denn an Ihnen herumgepfuscht? Herzenstube? Hehe!« Natürlich erfuhr Doktor Herzenstube das alles wieder. Und nun erschienen also alle drei Ärzte, um einer nach dem anderen vernommen zu werden. Doktor Herzenstube erklärte unumwunden, »die Abnormität der geistigen Fähigkeiten« des Angeklagten liege »auf der Hand«. Nachdem er seine Erwägungen vorgetragen hatte, die ich hier weglasse, fügte er hinzu, diese Abnormität äußere sich nicht nur in vielen früheren Handlungen des Angeklagten, sondern auch jetzt, sogar in diesem Augenblick; und als man ihn ersuchte zu erklären, worin sie sich jetzt, in diesem Augenblick äußere, verwies der alte Arzt mit seiner ganzen Geradheit und Offenherzigkeit auf das ungewöhnliche und in Anbetracht der Umstände verwunderliche Benehmen des Angeklagten, als er in den Saal getreten war. »Er schritt vorwärts wie ein Soldat und starrte vor sich hin, während es doch für ihn natürlicher gewesen wäre, nach links zu sehen, wo die Damen sitzen, denn er ist ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts gewesen und mußte sehr viel daran denken, was wohl jetzt die Damen von ihm sagen möchten«, schloß der Alte in seiner eigentümlichen Redeweise. Ich muß hinzufügen, daß er viel und gern russisch sprach; doch jeder Satz kam bei ihm auf deutsche Manier heraus, was ihn übrigens nie verlegen machte. Er hatte sein Leben lang die Schwäche, sein Russisch für musterhaft zu halten, »sogar für besser, als es die Russen selber sprechen«, und er zitierte sogar sehr gern russische Sprichwörter, wobei er jedesmal versicherte, die russischen Sprichwörter seien die besten und treffendsten der Welt. Ich erwähne noch, daß er im Gespräch infolge einer gewissen Zerstreutheit oft die gewöhnlichsten Wörter vergaß, die er gut kannte, die ihm aber plötzlich aus irgendeinem Grund entfallen waren. Dasselbe passierte ihm übrigens auch, wenn er deutsch sprach; dabei fuhr er immer mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als versuchte er das verlorene Wort zu erhaschen, und niemand hätte ihn dazu bringen können, mit dem Satz fortzufahren, bevor er das ihm entfallene Wort gefunden hatte. Seine Bemerkung, daß der Angeklagte beim Eintritt nach den Damen hätte sehen müssen, rief beim Publikum ein heiteres Geflüster hervor. Der alte Herr war bei unseren Damen sehr beliebt; sie wußten auch, daß er, der nie verheiratet gewesen war und ein frommes, keusches Leben führte, die Frauen als höhere, ideale Wesen betrachtete. Daher kam seine unerwartete Bemerkung allen sehr seltsam vor.
Der Moskauer Arzt erklärte, als er an die Reihe kam, in scharfem, entschiedenem Ton, daß er den geistigen Zustand des Angeklagten für abnorm erachte, »sogar im höchsten Grade«. Er sprach viel und klug über »Affekt« und »Manie« und kam zu dem Schluß, daß sich der Angeklagte nach allen bekannt gewordenen Tatsachen schon einige Tage vor seiner Festnahme zweifellos in einem krankhaften Affekt befand und, sofern er das Verbrechen überhaupt begangen haben sollte, dies zwar mit Bewußtsein, doch eher unfreiwillig tat, indem er schlechterdings nicht die Kraft hatte, gegen den krankhaften seelischen Drang, der ihn überkam, anzukämpfen. Außer dem Affekt hatte der Doktor auch noch Manie wahrgenommen, was nach seinen Worten geradezu auf eine sich herausbildende totale geistige Störung hindeutete. Wohlgemerkt, ich gebe das mit meinen eigenen Worten wieder; der Doktor drückte sich sehr gelehrt und fachmännisch aus. »Alle seine Handlungen stehen im Widerspruch zur gesunden Vernunft und zur Logik«, fuhr er fort. »Ich will nicht von dem reden, was ich nicht gesehen habe, das heißt von dem eigentlichen Verbrechen und von dieser ganzen Katastrophe. Doch selbst vorgestern hatte er im Gespräch mit mir einen unerklärlich starren Blick. Er lachte plötzlich los,
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