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Die Brueder Karamasow

Die Brueder Karamasow

Titel: Die Brueder Karamasow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodr Michailowitsch Dostojewski
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wozu nicht der geringste Anlaß bestand. Er legte dauernd eine unverständliche Gereiztheit an den Tag und gebrauchte sonderbare Worte, ›Bernard‹ ›Ethik‹ und andere, die gar nicht in das Gespräch hineinpaßten.« Als Manie wertete der Doktor besonders den Umstand, daß der Angeklagte von den dreitausend Rubeln, um die er sich betrogen glaubte, nicht reden könne, ohne gereizt zu sein, während er von allen anderen Mißgeschicken und Kränkungen ziemlich unbeeindruckt spreche. Nach seinen Erkundigungen sei er auch früher jedesmal, wenn diese dreitausend Rubel erwähnt wurden, in eine Art von Raserei verfallen, während er doch im allgemeinen als uneigennützig und selbstlos galt. »Was nun die Meinung meines gelehrten Kollegen betrifft«, fügte der Moskauer Arzt am Schluß seiner Rede ironisch hinzu, »daß der Angeklagte beim Eintritt in den Saal zu den Damen hätte schauen müssen und nicht geradeaus, so kann ich nur sagen: Ganz abgesehen von der Anstößigkeit einer derartigen Schlußfolgerung ist diese Meinung vollkommen irrig. Wenn ich auch zugebe, daß der Angeklagte beim Eintritt in den Gerichtssaal, in dem sein Schicksal entschieden wird, nicht derart starr hätte vor sich hin blicken sollen und daß dies tatsächlich als ein Symptom seines abnormen Geisteszustandes in dem betreffenden Augenblick betrachtet werden kann, so behaupte ich doch gleichzeitig, daß er nicht nach links zu den Damen, sondern nach rechts hätte blicken und mit den Augen seinen Verteidiger suchen müssen, auf dessen Hilfe seine ganze Hoffnung beruht und von dessen Verteidigung jetzt sein ganzes Schicksal abhängt.« Diese seine Meinung sprach der Doktor sehr entschieden und nachdrücklich aus. Eine besondere Komik erhielt die Meinungsverschiedenheit der beiden gelehrten Sachverständigen durch die unerwartete Schlußfolgerung des Arztes Warwinski, der als dritter befragt wurde. Nach seiner Ansicht befand sich der Angeklagte jetzt wie auch früher in völlig normalem Zustand; und wenn er vor seiner Festnahme tatsächlich sehr nervös und aufgeregt gewesen sei, so könne das von vielen sehr einleuchtenden Ursachen herrühren: Eifersucht, Zorn, Trunkenheit und so weiter. Aber dieser nervöse Zustand habe keinerlei besonderen »Affekt« auslösen können, wie das soeben gesagt worden sei. Was schließlich die Frage beträfe, ob der Angeklagte beim Eintritt in den Saal nach links oder nach rechts hätte sehen müssen, so habe er »nach seiner bescheidenen Meinung« vielmehr gerade vor sich hin blicken müssen, wie er es in Wirklichkeit auch getan hatte, denn vor ihm saßen der Präsident und die Mitglieder des Gerichts, von denen jetzt sein ganzes Schicksal abhing. »Somit hat er, eben indem er vor sich hin sah, seinen vollkommen normalen Geisteszustand in dem betreffenden Moment bewiesen«, schloß der junge Arzt mit einer gewissen Wärme.
    »Bravo, Arzt!« rief Mitja von seinem Platz aus. »Genauso ist es!«
    Mitja wurde natürlich zur Ordnung gerufen, aber die Meinung des jungen Arztes übte eine entscheidende Wirkung auf Gericht und Publikum aus; wie sich später herausstellte, waren alle mit ihm einverstanden. Als Doktor Herzenstube noch einmal, nunmehr in seiner Eigenschaft als Zeuge, vernommen wurde, machte er eine Aussage, die dem Angeklagten zum Vorteil gereichte. Als alter Einwohner der Stadt, der die Familie Karamasow schon lange kannte, lieferte er zunächst einiges für die »Anklage« sehr interessante Material und fügte dann wie nach einigem Nachdenken überraschend hinzu: »Und doch hätte der arme junge Mensch ein unvergleichlich besseres Schicksal haben können, denn er hatte immer ein gutes Herz, das weiß ich. Aber ein russisches Sprichwort sagt: ›Wenn jemand einen Verstand hat, so ist das gut. Doch wenn noch ein kluger Mensch zu ihm zu Besuch kommt, ist es noch besser. Dann sind zwei Verstande, und nicht bloß einer ...«
    »Ein Verstand ist gut, zwei sind besser«, korrigierte der Staatsanwalt ungeduldig, der die Gewohnheit des Alten kannte, langsam und weitschweifig zu sprechen, unbekümmert darum, welchen Eindruck das auf die Zuhörer machte und wie lange andere warten mußten, bis er fertig war; er selbst hielt seinen steifen, immer fröhlich-selbstzufriedenen deutschen Humor für etwas sehr Schönes.
    »O ja, das sage ich ja auch«, redete er hartnäckig weiter. »Ein Verstand ist etwas Gutes, doch zwei sind weit besser. Aber zu ihm kam kein anderer, der Verstand gehabt hätte, und da ließ er denn

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