Die Brueder Karamasow
eigentlich der Grund, warum ich von ihm spreche. ›Wenn einer der Söhne‹, sagte er zu mir, ›seinem Vater Fjodor Pawlowitsch im Charakter besonders ähnlich ist, so ist er es, Iwan Fjodorowitsch.‹ Mit dieser Bemerkung breche ich die begonnene Charakteristik ab, da ich es nicht für schicklich halte, sie weiter fortzusetzen. Oh, ich will keine weiteren Schlüsse ziehen und will nicht wie ein krächzender Unglücksrabe dem jungen Mann nur Verderben prophezeien. Wir haben ja heute hier in diesem Saal gesehen, daß die natürliche Kraft der Wahrheit noch in seinem jungen Herzen lebt, daß das Gefühl der Familienzusammengehörigkeit bei ihm nicht erstickt ist durch Unglauben und sittlichen Zynismus, wozu er mehr durch Vererbung als durch die Qual des Gedankens gelangt ist ... Dann der andere Sohn. Oh, das ist noch ein Jüngling, gottesfürchtig und bescheiden: im Gegensatz zu der finsteren, zersetzenden Weltanschauung seines Bruders sucht er sich sozusagen an die ›Volkselemente‹ zu halten oder an das, was man bei uns in manchen theoretischen Winkeln unserer denkenden Intelligenz mit diesem rätselhaften Wörtchen bezeichnet. Sehen Sie, er hatte sich einem Kloster angeschlossen und wäre beinahe selbst Mönch geworden. Bei ihm ist, wie mir scheint, gewissermaßen unbewußt und schon früh jene schüchterne Verzweiflung zum Ausdruck gekommen, an der jetzt so viele in unserer armen Gesellschaft leiden. Da sie den Zynismus und die Lasterhaftigkeit der Gesellschaft fürchten und irrtümlich alles Übel auf die westeuropäische Aufklärung zurückführen, so werfen sie sich, wie sie sich ausdrücken, ›auf den heimischen Boden‹, in die Mutterarme der heimischen Erde wie Kinder, die sich vor Gespenstern fürchten; sie möchten an der vertrockneten Brust der geschwächten Mutter nur ruhig einschlafen und sogar ihr ganzes Leben verschlafen, wenn sie nur nicht diese Schrecknisse zu sehen brauchen. Persönlich wünsche ich dem braven und begabten Jüngling alles Gute. Ich wünsche ihm, daß sich seine jugendliche Schwärmerei und sein Streben nach den ›Volkselementen‹ später nicht wie so oft auf der moralischen Seite in finsteren Mystizismus und auf der sozialen Seite in stumpfen Chauvinismus verwandeln mögen – zwei Richtungen, die der Nation vielleicht noch größeres Unheil androhen als selbst die frühe Verderbnis durch die falsch verstandene, ohne eigene Anstrengung erlangte westeuropäische Aufklärung, an der sein älterer Bruder leidet.«
Wegen der Bemerkung über den Chauvinismus und den Mystizismus klatschten wieder zwei oder drei Zuhörer Beifall. Ippolit Kirillowitsch hatte sich allerdings hinreißen lassen: All das hatte nur wenig mit der anliegenden Prozeßsache zu tun, ganz zu schweigen davon, daß es ziemlich unklar herauskam; aber gar zu sehr verlangte den schwindsüchtigen, verbitterten Menschen, sich wenigstens einmal in seinem Leben auszusprechen! Bei uns hieß es später, er habe sich bei der Schilderung von Iwan Fjodorowitschs Charakter sogar von einem unfeinen Gefühl leiten lassen, denn dieser habe ihn ein- oder zweimal öffentlich bei Debatten auf den Sand gesetzt, und der nachtragende Ippolit Kirillowitsch habe sich jetzt rächen wollen. Doch ich weiß nicht, ob man so schlußfolgern durfte. Jedenfalls war das alles nur die Einleitung; die Rede ging im folgenden mehr geradeaus und blieb näher bei der Sache.
»Aber nun ist da der dritte Sohn des modernen Familienvaters«, fuhr Ippolit Kirillowitsch fort. »Er sitzt vor uns auf der Anklagebank. Vor uns liegen auch seine Taten, sein Leben und seine Werke; der Augenblick ist gekommen, wo sich alles enthüllt hat und zutage gekommen ist. Im Gegensatz zu der ›europäischen Bildung‹ und den ›Volkselementen‹ seiner Brüder repräsentiert er in seiner Person gewissermaßen das ungebrochene Rußland – oh, nicht das ganze, nicht das ganze! Gott behüte uns davor, daß es das ganze wäre! Und doch ist da unser Rußland, unser Mütterchen, man riecht und schmeckt es geradezu. Oh, wir sind ungebrochen, wir sind böse und gut in wunderlichster Mischung; wir lieben die Aufklärung und Schiller, und gleichzeitig randalieren wir in den Wirtshäusern und reißen unseren betrunkenen Zechgenossen die Bärte aus. Oh, wir sind auch manchmal gut und edel, aber nur dann, wenn es uns selbst gut geht. Wir begeistern uns sogar für die edelsten Ideale, aber nur unter der Bedingung, daß sie sich von selbst erreichen lassen, uns vom Himmel auf den
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