Die Brüder Karamasow
ein erbarmungsloses Volk. Einzeln sind sie Engel Gottes, zusammen jedoch sehr oft erbarmungslos. Sie begannen ihn zu necken, und da empörte sich in Iljuscha der adlige Geist. Ein gewöhnlicher Junge, ein schwaches Söhnchen, hätte sich gefügt, hätte sich seines Vaters geschämt – er aber erhob sich, einer gegen alle. Als Verteidiger seines Vaters und für Wahrheit und Recht. Denn was er damals erduldet hat, als er Ihrem Bruder die Hand küßte und ihn um Gnade für seinen Vater bat, das weiß nur Gott allein und ich. Und so erkennen denn unsere Kinderchen, das heißt nicht Ihre, sondern unsere Kinderchen, die Kinder verachteter adliger Bettler, die Wahrheit auf Erden schon mit neun Jahren. Bei den Reichen ist das unmöglich, die dringen ihr ganzes Leben lang nicht in solche Tiefe. Aber mein Iljuscha hat in jenem Augenblick, auf dem Marktplatz, als er Ihrem Bruder die Hand küßte, die ganze Wahrheit erkannt. Diese Wahrheit überwältigte ihn und schlug ihn für immer zu Boden«, sagte der Stabskapitän hitzig und schlug dabei mit der rechten Faust in die linke Handfläche, als ob er verdeutlichen wollte, wie »die Wahrheit« seinen Sohn zu Boden geschlagen hatte. »Gleich damals fieberte und phantasierte er die ganze Nacht. Den ganzen Tag sprach er nur wenig mit mir, er schwieg fast ganz, doch ich bemerkte, daß er mich aus seiner Ecke immerzu beobachtete und sich immerzu über das Fensterbrett beugte und tat, als ob er seine Aufgaben lernte; ich sah aber, daß er etwas anderes als seine Aufgaben im Kopf hatte. Am folgenden Tag betrank ich mich vor Kummer, ein sündiger Mensch wie ich bin, und erinnere mich an vieles nicht. Das Mamachen hatte ebenfalls angefangen zu weinen, und das Mamachen hab ich sehr lieb, na, und da betrank ich mich denn vor Kummer für mein letztes Geld. Verachten Sie mich deshalb nicht, mein Herr, bei uns in Rußland sind die Trinker die besten Menschen. Die besten Menschen bei uns sind die schlimmsten Trinker. Ich lag da und kümmerte mich an diesem Tag nicht viel um Iljuscha, doch ab eben diesem Tag begannen sie ihn in der Schule vom Morgen an zu verhöhnen: ›Bastwisch!‹ riefen sie. ›Dein Vater ist an seinem Bastwisch aus der Kneipe gezerrt worden, und du bist daneben hergelaufen und hast um Gnade gebettelt!‹ Als er am dritten Tag wieder aus der Schule kam, bemerkte ich, daß sein Gesicht ganz entstellt und blaß aussah. ›Was hast du denn?‹ fragte ich. Er schwieg. Na, im Zimmer konnte ich nicht gut mit ihm darüber reden, sonst hätten sich das Mamachen und die Mädchen ins Gespräch eingemischt; außerdem hatten die Mädchen schon längst alles erfahren, gleich am ersten Tag. Warwara Nikolajewna fing schon an zu brummen: ›Ihr Possenreißer, ihr Hanswurste, Vernunft ist bei euch kein bißchen zu finden!‹ – ›Ganz richtig, Warwara Nikolajewna‹, sagte ich, ›Vernunft ist bei uns nicht zu finden!‹ Damit beendete ich diesmal das Gespräch. Am Abend nahm ich den Jungen mit zu einem Spaziergang. Sie müssen nämlich wissen, daß wir früher jeden Abend spazierengegangen sind, genau denselben Weg, den wir beide jetzt gehen, von unserem Pförtchen bis zu dem großen Stein, der dort neben dem Zaun am Weg liegt, da, wo die städtischen Weideplätze anfangen – eine hübsche, einsame Gegend. Ich ging also mit Iljuscha. Sein Händchen lag wie gewöhnlich in meiner Hand, er hat ein so winziges Händchen und so schmale, kalte Fingerchen, er ist ja brustleidend. ›Papa‹, sagte er, ›Papa!‹ – ›Was denn?‹ fragte ich. Ich sah, daß seine Augen glänzten. ›Papa, wie durfte er dir das damals tun?‹ – ›Was soll man machen, Iljuscha!‹ sagte ich. – ›Versöhne dich nicht mit ihm, Papa! Versöhn dich nicht mit ihm! Die Schüler sagen, er hat dir zehn Rubel gegeben?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›Geld werde ich von ihm unter keinen Umständen annehmen.‹ Da ging eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper; er nahm meine Hand in seine kleinen Hände und küßte sie immer wieder. ›Papa‹, sagte er, ›Papa! Fordere ihn doch zum Duell! In der Schule necken sie mich und sagen, du seist ein Feigling und willst ihn nicht zum Duell fordern, weil du zehn Rubel von ihm nimmst.‹ – ›Zum Duell kann ich ihn nicht fordern, Iljuscha‹, sagte ich und setzte ihm in Kürze alles auseinander, was ich Ihnen eben auseinandergesetzt habe. Er hörte mir zu. ›Papa‹, sagte er dann, ›Papa, versöhn dich trotzdem nicht mit ihm. Ich werde, wenn ich groß bin, ihn
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