Die Brüder Karamasow
gedacht. Später, als es dich selbst nach Moskau verschlagen hat, sind wir wohl nur einmal irgendwo zusammengetroffen. Und nun lebe ich hier schon über drei Monate, und wir haben bisher kaum ein Wort miteinander gesprochen. Morgen reise ich ab, und da dachte ich eben, als ich hier saß: ,Könnte ich ihn noch einmal sehen, um mich von ihm zu verabschieden!‹ Und da kamst du gerade vorbei.«
»Hast du sehr gewünscht, mich zu sehen?«
»Ja, sehr. Ich möchte, daß wir uns gründlich, ein für allemal, kennenlernen und dann voneinander Abschied nehmen. Meiner Ansicht nach lernt man sich am besten vor der Trennung kennen. Ich habe diese ganzen drei Monate deine Blicke gesehen. In deinen Augen lag eine ständige Erwartung, und gerade das kann ich nicht ausstehen. Deshalb bin ich dir nicht entgegengekommen. Doch zuletzt habe ich dich achten gelernt. Ich sagte mir: Dieser Mensch steht fest auf seinen Füßen. Wohlgemerkt: Wenn ich jetzt auch lache, ich rede doch im Ernst. Du stehst doch fest auf deinen Füßen, nicht wahr? Ich liebe solche festen Menschen – mögen sie stehen, worauf sie wollen, und mögen sie auch so kleine Knaben sein wie du. Dein gespannter Blick hörte schließlich auf, mir unangenehm zu sein, im Gegenteil – ich mochte ihn zuletzt sogar gern. Du scheinst mich aus irgendeinem Grund liebzuhaben, Aljoscha?«
»Ja, ich habe dich lieb, Iwan. Dmitri sagt von dir: ›Iwan schweigt wie das Grab!‹ Ich sage von dir: ›Iwan ist ein Rätsel.‹ Du bist auch jetzt für mich ein Rätsel; etwas in dir habe ich aber schon begriffen, und zwar erst heute vormittag.«
»Und was wäre das?« fragte Iwan lachend.
»Wirst du mir auch nicht böse sein?« fragte Aljoscha, ebenfalls lachend.
»Daß du genauso ein junger Mann bist wie alle jungen Männer von dreiundzwanzig, genauso jung und forsch und frisch und prächtig. Na, und schließlich genauso ein Grünschnabel. Na, hab ich dich nun schwer beleidigt?«
»Im Gegenteil, ich bin verblüfft über das Zusammentreffen unserer Gedanken!« rief Iwan vergnügt und mit Wärme. »Wirst du es glauben, daß ich nach unserer heutigen Begegnung bei mir ebenfalls im stillen daran gedacht habe, ich meine, an meine Grünschnäbligkeit als junger Mann von dreiundzwanzig? Und nun hast du das auf einmal erraten und sprichst gleich davon. Ich saß hier, und weißt du, was ich mir sagte? Ich sagte mir: Wenn ich auch nicht mehr an das Leben glaube, wenn ich mich auch in einer geliebten Frau und außerdem in der Ordnung der Dinge getäuscht habe, wenn ich auch zu der Überzeugung gelangt bin, daß alles ein verfluchtes, teuflisches Chaos ist, und, wenn mich auch alle Schrecken menschlicher Enttäuschung überkommen – ich will dennoch weiterleben und diesen Becher, den ich nun einmal zu trinken angefangen habe, nicht vom Mund nehmen, ehe ich ihn vollkommen geleert habe! Mit dreißig werde ich den Becher jedoch, auch wenn ich ihn noch nicht vollkommen geleert haben sollte, sicherlich zu Boden schleudern und weggehen – wohin, weiß ich nicht. Aber bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wird meine Jugendkraft, das weiß ich bestimmt, alles überwinden: jede Enttäuschung, jeden Ekel vor dem Leben. Ich habe mich oft gefragt: Gibt es auf der Welt so eine Verzweiflung, welche diese rasende, vielleicht unanständige Lebensgier in meiner Seele überwinden könnte? Und ich habe mir geantwortet, daß es sie wohl nicht gibt, das heißt wieder nur bis zum dreißigsten Lebensjahr. Dann werde ich wohl selber keine Lust mehr haben, scheint mir. Diese Lebensgier nennen die schwindsüchtigen, unreifen Moralphilosophen oft gemein, vor allem tun das die Dichter. Zum Teil ist diese Lebensgier allerdings ein Karamasowscher Charakterzug, und sie steckt zweifellos auch in dir – warum soll sie aber gemein sein? Es gibt auf unserem Planeten eine starke Zentripetalkraft, Aljoscha. Ich will leben! Und ich lebe, wenn auch gegen alle Logik. Wenn ich auch nicht an die Ordnung der Dinge glaube – teuer sind mir die klebrigen Blättchen, die sich im Frühling entfalten, teuer ist mir der blaue Himmel, teuer ist mir ab und zu ein Mensch, den ich dann, ob du es glaubst oder nicht, liebgewinne, ohne zu wissen, warum, teuer ist mir manche menschliche Großtat, an die ich vielleicht schon längst nicht mehr glaube, die ich aber in alter Erinnerung immer noch hoch halte. Da kommt deine Fischsuppe, laß sie dir schmecken!
Die Fischsuppe ist hier vorzüglich, die Leute verstehen sich auf die Zubereitung ... Ich
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