Die Brüder Karamasow
will nach Westeuropa reisen, Aljoscha, gleich von hier aus losfahren. Ich weiß ja, daß ich dabei nur auf einen Friedhof fahre – aber auf den teuersten, den allerteuersten Friedhof, das ist die Hauptsache! Da liegen teure Tote; jeder Grabstein kündet da von einem in heißer Glut dahingegangenen Leben, von einem so leidenschaftlichen Glauben an die eigene Großtat, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Wissenschaft, daß ich, das weiß ich vorher, auf die Erde fallen und diese Steine küssen und über ihnen weinen muß, obwohl ich gleichzeitig überzeugt hin, daß alles schon längst ein Friedhof ist und weiter nichts. Nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, sondern einfach, weil meine vergossenen Tränen mich glücklich machen. An meiner eigenen Rührung werde ich mich berauschen. Die klebrigen Frühlingsblättchen und den blauen Himmel liebe ich, das ist es! Verstand und Logik haben damit nichts zu tun, man liebt mit den Eingeweiden, körperlich, man liebt seine ersten jungen Kräfte ... Verstehst du etwas von meinem unsinnigen Gerede, Aljoscha ... ?« fragte Iwan plötzlich lachend.
»Sehr gut verstehe ich dich, Iwan. Mit den Eingeweiden, körperlich, will man lieben – das hast du schön gesagt. Ich freue mich darüber, daß du dir wünschst zu leben!« rief Aljoscha. »Ich glaube, alle Menschen müssen vor allem, was es auf der Welt gibt, das Leben lieben.«
»Soll man das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?«
»Unbedingt. Man muß es lieben vor aller Logik, wie du dich ausdrückst. Unbedingt vor der Logik, erst dann wird man seinen Sinn verstehen. Das hat mir schon längst so vorgeschwebt. Die Hälfte deines Werkes ist getan, Iwan, glücklich getan: Du liebst das Leben. Jetzt mußt du dich bemühen, auch die zweite Hälfte zu bewältigen, und du bist gerettet.«
»Du rettest mich schon, und ich bin vielleicht noch gar nicht zugrunde gegangen! Worin besteht sie denn, deine zweite Hälfte?«
»Darin, daß du deine Toten auferwecken mußt, die vielleicht überhaupt nie gestorben sind. So, nun bestell mir Tee! Ich freue mich, daß wir miteinander reden, Iwan.«
»Du bist, wie ich sehe, geradezu begeistert. Ich liebe derartige professions de foi von seiten solcher Novizen. Du bist ein fester Charakter, Alexej ... Ist es wahr, daß du aus dem Kloster austreten willst?«
»Ja, es ist wahr. Mein Starez sendet mich in die Welt.«
»Da werden wir uns also in der Welt wiedersehen und uns noch vor meinem dreißigsten Lebensjahr begegnen, in dem ich den Becher dann absetzen werde. Der Vater will seinen Becher nicht vor dem siebzigsten Jahr absetzen, er phantasiert sogar vom achtzigsten. Das hat er selbst gesagt, und es ist ihm Ernst damit, obwohl er ein Possenreißer ist. Er fußt auf seiner Wollust wie auf einem Stein ... Freilich ist das nach dreißig vielleicht das einzige, worauf man fußen kann. Aber bis siebzig, das ist gemein. Eher noch bis dreißig – da kann man noch eine Spur von edler Gesinnung bewahren, indem man sich selbst betrügt ... Hast du Dmitri heute gesehen?«
»Nein, aber Smerdjakow.«
Und Aljoscha erzählte seinem Bruder eilig und dennoch ausführlich von seiner Begegnung mit Smerdjakow. Iwan machte
beim Zuhören auf einmal ein recht sorgenvolles Gesicht; über einzelne Punkte stellte er zur Sicherheit sogar Fragen.
»Allerdings hat er mich gebeten, Dmitri nichts davon zu sagen, was er mir über ihn mitgeteilt hat«, fügte Aljoscha hinzu.
Iwan zog die Augenbrauen zusammen und wurde sehr nachdenklich.
»Machst du wegen Smerdjakow ein so finsteres Gesicht?« fragte Aljoscha.
»Ja, seinetwegen. Hol‹ ihn der Teufel! Ich hätte Dmitri tatsächlich gern gesprochen. Doch jetzt ist es nicht mehr nötig ...«, sagte Iwan unlustig.
»Und du, wirst du wirklich bald abreisen, Bruder?«
»Ja.«
»Und was soll aus Dmitri und dem Vater werden? Wie soll die Spannung zwischen ihnen enden?« fragte Aljoscha stark beunruhigt.
»Du immer mit deiner alten Leier! Was geht das mich an? Bin ich etwa meines Bruders Hüter?« erwiderte Iwan schroff und gereizt, lächelte aber plötzlich bitter. »So antwortete Kain, als Gott ihn nach seinem erschlagenen Bruder fragte, nicht wahr? Vielleicht hast du in diesem Augenblick daran gedacht? Hol's der Teufel, ich kann wirklich nicht als Hüter bei ihnen bleiben! Ich habe meine Angelegenheiten zum Abschluß gebracht und reise ab. Du denkst doch wohl nicht, daß ich auf Dmitri eifersüchtig bin und daß ich ihm diese drei Monate
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