Die Brüder Löwenherz
mir gehabt hätte ich wohl losgejubelt. Aber so tat ich es nicht, nein, wahrhaftig nicht! Der Pfad wand und schlängelte sich dahin genau wie vorher. Bald aber ging es steil abwärts. Mir wurde klar, daß wir uns jetzt dem Heckenrosental näherten. Dennoch traute ich kaum meinen Augen, als ich es plötzlich unter mir liegen sah: Es war ebenso schon wie das Kirschtal, wie es dort im Morgenlicht mit seinen Häuschen und Gehöften, den grünen Hängen und den blühenden Heckenrosensträuchern vor uns lag. Wahre Dickichte von Heckenrosensträuchern waren es. Von oben sah es wirklich lustig aus, fast wie rosa Schaumkronen auf einem grünen Wellenmeer. Ja, Heckenrosental war der richtige Name für dieses Tal. Ohne Veder und Kader wäre ich niemals dorthin gelangt. Denn rund um das ganze Heckenrosental lief eine Mauer, eine hohe Mauer. Die Bewohner des Tals hatten sie auf Tengils Befehl errichten müssen, denn er wollte sie als Sklaven für immer in Gefangenschaft halten. Jonathan hatte es mir erzählt, deshalb wußte ich es. Veder und Kader mußten vergessen haben mich zu fragen, wie es mir gelungen war, aus diesem abgeriegelten Tal herauszukommen, und ich betete zu Gott, daß es ihnen auch nie einfallen möge. Denn was hätte ich antworten sollen? Wie sollte ein Mensch über diese Mauer kommen - noch dazu auf einem Pferd? Oben auf der Mauer hielten, so weit ich nur sehen konnte, Tengilmänner in schwarzen Helmen und Schwertern und Speeren Wache. Andere bewachten das Tor, denn dort, wo der Pfad aus dem Kirschtal endete, war ein Tor in der Mauer. Früher waren die Menschen zwischen den Tälern frei hin und her gewandert, jetzt war hier ein geschlossenes Tor, und nur Tengils Leute durften hindurch. Veder pochte mit seinem Schwertknauf an das Tor. Eine kleine Luke öffnete sich, und ein riesengroßer Kerl steckte den Kopf heraus.
»Losungswort«, schrie er. Veder und Kader flüsterten ihm die geheime Parole ins Ohr. Damit ich sie nicht hören sollte. Aber das war ja ganz überflüssig, denn auch ich kannte die Worte »Alle Macht Tengil, dem Befreier!«
Der Mann in der Luke sah mich an und fragte:
»Und der da? Was ist das für einer?«
»Das ist ein kleiner Dummkopf, den wir in den Bergen aufgegabelt haben«, antwortete Kader.
»Aber vielleicht ist er gar nicht so dumm, denn immerhin hat er sich gestern abend durch dein Tor schleichen können. Was sagst du dazu, Oberwächter? Ich meine, du solltest deine Leute mal fragen, wie sie abends ihren Wachdienst versehen.«
Der in der Luke wurde böse. Er öffnete das Tor und schimpfte und fluchte und wollte mich nicht durchlassen, nur Veder und Kadar.
»In die Katlahöhle mit ihm«, brüllte er. »Da gehört er hin!«
Doch Veder und Kader gaben nicht nach - ich müsse hinein, sagten sie, denn erst solle ich beweisen, daß ich ihnen nichts vorgeschwindelt hätte. Das festzustellen sei ihre Pflicht Tengil gegenüber. Und so ritt ich hinter Veder und Kader durch das Tor. Dabei dachte ich, wenn ich Jonathan je wiedersehe, dann erzähle ich ihm, wie Veder und Kader mir ins Heckenrosental hineingeholfen haben. Da würde er etwas zu lachen haben! Aber ich selber lachte nicht. Denn ich wußte, wie schlecht es um mich bestellt war. Ich mußte ein weißes Häuschen mit einem Großvater finden, sonst würde ich in die Katlahöhle kommen.
»Reit voraus und zeig uns den Weg«, befahl Veder. »Wir haben ein ernstes Wörtchen mit deinem Großvater zu reden!«
Ich trieb Fjalar an und schlug einen Weg dicht an der Mauer ein. Weiße Häuser gab es viele, genau wie daheim im Kirschtal. Ich sah aber keines, auf das ich zu zeigen wagte, weil ich nicht wußte, wer darin wohnte. Ich wagte nicht zu sagen: »Da wohnt Großvater«, denn wenn Veder und Kader hineingegangen wären und es dort nicht einmal einen alten Mann gegeben hätte, geschweige einen, der mein Großvater hätte sein wollen - nicht auszudenken! Jetzt saß ich wirklich in der Klemme, und ich schwitzte vor Angst. Einen Großvater erfinden war leicht gewesen, aber jetzt kam mir meine Schwindelei gar nicht mehr so schlau vor. Überall sah ich Leute bei der Arbeit, aber nirgends einen, dei wie ein Großvater aussah, und mir wurde immer jämmerlicher zumute. Überdies war es schrecklich zu sehen, wie es den Menschen im Heckenrosental erging, wie bleich und verhungert und unglücklich sie alle aussahen, wie anders als die Leute im Kirschtal. Aber in unserem Tal gab es ja auch keinen Tengil, der uns nur zur Arbeit anhielt und uns kaum
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