Die Brüder Löwenherz
das Nötigste zum Leben ließ. Ich ritt und ritt. Veder und Kader wurden schon ungeduldig, doch ich ritt immer weiter, als wollte ich bis ans Ende der Welt.
»Ist es noch weit?« fragte Veder.
»Nein, nicht mehr sehr«, sagte ich, wußte aber weder, was ich sagte, noch was ich tat. Ich war ganz von Sinnen vor Angst und wartete nur darauf, in die Katlahöhle geworfen zu werden. Doch da geschah ein Wunder. Glaubt mir oder nicht, aber vor einem weißen Häuschen dicht an der Mauer saß ein alter Mann auf einer Bank und fütterte Tauben. Vielleicht hätte ich mich nicht getraut, das zu tun, was ich nun tat, wenn unter all den grauen Tauben nicht auch eine schneeweiße gewesen wäre. Eine einzige! Tränen traten mir in die Augen, denn solche Tauben hatte ich nur bei Sophia gesehen und davor, lange Zeit davor, ein einziges Mal in einer anderen Welt vor meinem Fenster. Und jetzt tat ich etwas Unerhörtes: Ich sprang vom Pferd, und mit wenigen Sätzen war ich bei dem Alten, schlang ihm die Arme um den Hals und flüsterte in meiner Verzweiflung: »Hilf mir! Rette mich! Sag, daß du mein Großvater bist!«
Ich hatte furchtbare Angst und war ganz sicher, daß er mich wegstoßen würde, wenn er Veder und Kader in ihren schwarzen Helmen hinter mir sah. Weshalb sollte er meinetwegen lügen und vielleicht deshalb in der Katlahöhle landen? Aber er stieß mich nicht fort. Er hielt mich umfaßt, und seine Arme waren für mich ein Schutz gegen alles Böse.
»Mein Kleiner«, sagte er so laut, daß Veder und Kader es hören mußten, »wo bist du denn so lange gewesen? Und was hast du angestellt, du unseliges Kind, daß Soldaten dich heimbringen?«
Mein armer Großvater, wie schrecklich er von Veder und Kader gescholten wurde!
Sie schnauzten und schimpften und sagten, er solle gefälligst auf seine Enkelkinder aufpassen um sie nicht in den Bergen von Nangijala herumstreunen lassen, denn sonst hätte er bald keine Enkel mehr und er selber könne etwas erleben, das er nie vergessen würde. Nur dieses eine Mal wollten sie ihn noch laufenlassen, sagten sie schließlich. Und dann ritten sie fort. Bald waren ihre Helme nur noch als schwarze Pünktchen fern im Tal zu erkennen. Da fing ich an zu weinen. Ich hielt meinen Großvater noch immer umschlungen und weinte und weinte, denn die Nacht war so lang und schwer gewesen, und jetzt war sie endlich vorüber. Und mein Großvater ließ mich gewähren. Er wiegt mich in seinen Armen hin und her, und ich wünschte, oh, WH sehr wünschte ich mir, er wäre mein richtiger Großvater. Obgleich ich noch immer weinte, versuchte ich es ihm zu sagen.
»Ja, ich will gern dein Großvater sein«, sagte er.
»Aber mein Name ist Matthias. Und wie heißt du?«
»Karl Lö...« begann ich. Doch da verstummte ich. Wie konnte ich nur so wahnsinnig sein, diesen Namen im Heckenrosental zu nennen!
»Lieber Großvater, mein Name ist geheim«, sagte ich. »Nenn mich einfach Krümel!«
»Soso, Krümel«, sagte Matthias und lachte leise.
»Na, dann geh jetzt mal in die Küche, Krümel, und warte dort auf mich«, fügte er hinzu. »Ich bring inzwischen dein Pferd in den Stall.«
Und ich ging hinein. In eine ärmliche kleine Küche mit nur : einem Tisch, einer Holzbank, ein paar Stühlen und einem Herd. Und mit einem großen Schrank an der Wand. Bald kam Matthias wieder, und ich sagte:
»So einen großen Schrank haben wir auch in unserer Küche, zu Hause im Kirsch...«
Wieder verstummte ich.
»Zu Hause im Kirschtal«, sagte Matthias. Ich sah ihn ängstlich an - wieder hatte ich etwas gesagt, was ich nicht hätte sagen dürfen. Mehr sagte Matthias nicht. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Lange stand er da und guckte, als wolle er ganz sicher sein, daß niemand in der Nähe war. Schließlich wandte er sich zu mir und sagte leise:
»Mit diesem Schrank hat es freilich seine besondere Bewandtnis. Wart, ich zeig es dir!«
Er stemmte die Schulter dagegen und schob den Schrank beiseite. Dahinter in der Wand dicht über dem Fußboden befand sich eine Luke. Er öffnete sie, und man sah in einen kleinen Raum, eine winzige Kammer. Jemand lag dort auf dem Fußboden und schlief.
Es war Jonathan.
9
Ein paarmal in meinem Leben bin ich so froh gewesen, daß ich vor Freude nicht aus noch ein wußte. Einmal, als ich klein war und Jonathan mir zu Weihnachten einen Rodelschlitten geschenkt hatte, für den er lange hatte sparen müssen. Und dann, als ich nach Nangijala kam und Jonathan unten am Fluß entdeckte.
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt