Die Brueder
Krieges. Etwa die Hälfte der Patienten war nicht ansprechbar, weil ihnen entweder der Unterkiefer weggeschossen oder der Kehlkopf zerschmettert oder die Stimmbänder zerstört worden waren. Es gab aber auch weniger sichtbare, psychische Leiden. Einige saßen den ganzen Tag nur da, wiegten die Köpfe hin und her und starrten an die Wand. Andere lagen mit aufgerissenen Augen auf dem Rücken reglos im Bett. Patienten ohne sichtbare Verletzungen saßen apathisch herum und waren nicht einmal in der Lage, allein zu essen. Einer murmelte ständig Gebete und flehte um Vergebung. Nachts waren Schreie zu hören, viele hatten Albträume.
Alle diese Männer gaben ein Bild des Krieges wieder, ein wahrhaftiges Bild, ein Gegenbild zu den ständigen Siegesmeldungen der letzten drei Jahre. Die militärischen Berichte und die Megafone des Militärs, die vormals sogenannte freie Presse, kündeten nur von siegreichem Heldenmut, obwohl sogar die offiziellen Zahlen über die Gefallenen eindeutig von Niederlage und Tod sprachen. Hier in Manningham House zwischen den Möbeln mit Schonbezügen und den Ölgemälden, die in geradezu schreiender Ironie unverletzte Offiziere zu Pferde oder hübsche Damen in aufwendigen Seidenkleidern zeigten, war die Wahrheit zu sehen.
Das Bild des durch den Krieg hervorgerufenen physischen und psychischen Leidens, das sich ihm in den grotesk luxuriösen Krankensälen bot, übte auf Sverre eine unwiderstehliche Anziehung aus. Es war jedoch nicht einfach, sich mit Skizzenblock oder Staffelei und Palette Zugang zu verschaffen. Oberst Cunningham, der das Kommando über die Krankenpflegeeinheiten in Manningham House und einigen Herrenhöfen in der Nähe führte, war Kunst gegenüber höchst misstrauisch.
Als er Sverre zum ersten Mal dabei ertappte, dass er einen der größeren Krankensäle skizzierte, tat er geradezu so, als habe er einen deutschen Spion auf frischer Tat ertappt, und befahl, den Künstler »in Ketten zu legen« und bis auf Weiteres im Weinkeller unterzubringen.
Die folgende Auseinandersetzung Albies, der sich, wie er es selbst ausdrückte, zum Hauptmann des dritten Batail lons des Wiltshire-Regiments ausgestattet hatte, mit Oberst Cunningham entbehrte nicht einer gewissen Komik. Sie begann mit einem kurzen Wortgeplänkel darüber, wie man sich eigentlich zu titulieren habe. Oberst Cunningham verbat sich die Anrede Sir. Albie gab zurück, dass er mit Euer Gnaden anzureden sei, obwohl er ein Hauptmann niedrigeren Ranges als ein Oberst sei.
Der Streit wurde am Ende mit einem Kompromiss beigelegt. »Künstlerische Aktivitäten auf dem Gelände« wurden in Ausnahmefällen gestattet, wenn die Personen, die abgebildet werden sollten, zustimmten. Großansichten, die viele Verwundete auf einmal zeigten, kamen jedoch keinesfalls infrage, da solche Bilder der Sache Englands wenig dienlich waren.
Sverre musste murrend zugeben, dass die Einsichten des Obersten in die politischen Inhalte von Kunstwerken nicht zu unterschätzen waren, auch wenn unwahrscheinlich war, dass Sir Oberst je von Goya gehört hatte.
Sverres neue Strategie bestand also darin, ansprechbare Patienten zu finden und sie zu fragen, ob sie sich porträtieren lassen wollten. Dies lehnten die meisten mit der Begründung ab, dass ein verwundeter Soldat ein Bild der Niederlage sei.
Leutnant Henry Carrington, stellvertretender Hauptmann, der in Cambridge studiert hatte, willigte als Erster ein. Er hatte sein linkes Bein verloren und war deprimiert, aber ansprechbar und sehnte sich geradezu nach Gesprächen mit einem Zivilisten. Dass er vor seinem freiwilligen Eintritt in die Armee Eisenbahntechnik studiert hatte, erleichterte Sverre den Kontakt, obwohl er erst glaubte, einen dummen Fehler begangen zu haben, als er spontan erzählte, er sei Diplomingenieur und ebenfalls auf Eisenbahnbau spezialisiert, und darauf die unvermeidliche Frage folgte, wo er denn sein Examen abgelegt habe.
»In Dresden«, erwiderte Sverre lakonisch. »In Dresden in Mitteldeutschland im Jahr 1901.« Es wäre ungeschickt gewesen, sich mit einer Lüge aus der Affäre zu ziehen.
Henry Carrington verstummte einige Sekunden lang, dann brach er in Gelächter aus.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, meinte er dann, wobei es nicht ganz ersichtlich war, ob er es fromm oder ironisch meinte.
»Ja«, erwiderte Sverre. »Die Wege des Herrn können verwirren. Damals waren die Deutschen bekanntlich noch unsere Freunde.«
Der Leutnant nickte zustimmend, und eine kurze
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