Die Brueder
neues kleines Haus«, sagte Albie. »Aber hier werden wir heute Nacht nicht wohnen, es ist noch nicht eingerichtet.«
»Und wo fahren wir dann hin?«, fragte Sverre, misstrauisch nach diversen Erfahrungen mit Albies gelegentlich impulsiven Anwandlungen, bestimmte Männerrunden aufzusuchen, die er nicht sonderlich erfreulich fand. Das war jedoch schon lange nicht mehr vorgekommen.
»Nicht, was du denkst«, versicherte Albie und deutete auf die Tür des Nachbarhauses. »Hier wird der neue Donnerstagsclub abgehalten. Ich glaube, du wirst dich dort sehr wohlfühlen.«
Albie öffnete die Haustür, ohne zu klingeln, und ging mit Sverre mit der Selbstverständlichkeit eines Hausherrn die knarrende Treppe hinauf in den zweiten Stock, öffnete eine Wohnungstür und breitete die Arme aus, um die erste Person, die ihm in den Weg kam, zu umarmen. Sverre war einen Moment lang perplex, ehe er einen Blick in die Runde geworfen und gesehen hatte, dass es sich nicht um das handelte, was er kurz befürchtet hatte. Das Zimmer wurde von vielen kleinen Ampeln erleuchtet, und es herrschte das totale Chaos, eine Unmenge Leute lag auf Kissen und Sofas herum, und die nächste Person, die sich erhob, wurde von Albie umarmt.
»Das ist Thoby, einer meiner Freunde aus Cambridge«, stellte Albie ihn Sverre vor, und Sverre gab ihm die Hand. »Und das hier ist mein lieber Freund Sverre«, fuhr er mit der Präsentation fort.
Als Sverre Thoby begrüßte, entdeckte er weiter hinten zwischen zwei gleichaltrigen Frauen Margie. Sie lagen wie drei kleine Tiere auf einem Kissenberg. Der Nächste, der sich mit Mühe von einer Couch erhob, hieß Clive und wurde als Kunstkritiker vorgestellt.
Dann kam Margie auf Sverre zu, umarmte ihn und küsste ihn schamlos auf den Mund. Daraufhin übernahm sie – schließlich war sie eine Lady, was auch die Kurzhaarfrisur und das einfache Kleid nicht verbergen konnten – die Aufgabe, ihn der übrigen Gesellschaft vorzustellen.
»Meine beste Freundin Vanessa von der Royal Academy und ihre Schwester Virginia, die Schriftstellerin werden möchte.«
»Ich bin Schriftstellerin«, fauchte Virginia und reichte Sverre die Hand.
»Wir servieren zweierlei Erfrischungen, Kakao mit Gebäck oder Whisky. Was wünschen die Herren?«, fuhr Margie, ganz die Gastgeberin, unbekümmert fort.
»Whisky, danke«, antworteten Albie und Sverre gleichzeitig.
Vanessa holte eine Flasche und zwei Gläser und reichte sie ohne Umschweife Albie, der mit dem Rücken zur Couch, auf der sich der Kunstkritiker Clive jetzt wieder ausstreckte, auf dem Fußboden Platz nahm. Nach kurzem Zögern setzte sich Sverre neben Albie.
»Willkommen im Bloomsbury-Donnerstagsclub«, sagte Albies ehemaliger Kommilitone Thoby und hob eine Tasse, in der, Margies Angebot nach zu schließen, Kakao sein musste.
»Ich stoße vermutlich zum ersten Mal mit einem Kakaotrinker an«, meinte Albie, wobei nicht zu erkennen war, ob ihn dieser Umstand wirklich schockierte.
»Die Etikette ist uns nicht so wichtig«, meinte Thoby mit einer ironischen Verbeugung. »Außer in einem Punkt! Egal, worüber wir sprechen, wir verlangen von allen, die sich an der Unterhaltung beteiligen, absolute Ehrlichkeit. Und Freundschaft. Mehr nicht.«
»Das klingt wie eine Contradictio in Adjecto«, wandte Albie blitzschnell ein. »Wie soll man eine Freundschaft aufrechterhalten können, wenn man immer ehrlich ist, ganz zu schweigen von absolut ehrlich?«
»Genau dieser Frage wollen wir hier auf den Grund gehen«, antwortete Thoby ebenso rasch.
»Gute Güte«, seufzte Albie, »worüber habt ihr euch dann unterhalten, bevor wir gekommen sind? Über Planetenkonstellationen?«
»Nein, über den Gegensatz Vitalismus–Mechanismus«, erwiderte eine der beiden Schwestern.
»Und noch mal gute Güte«, wiederholte Albie mit einem ironischen Lächeln. »Diese alte Frage ist natürlich eine enorme Herausforderung an die Ehrlichkeit.«
Einige Leute lachten verlegen, dann folgte Schweigen.
»Apropos Ehrlichkeit, so habe ich gerade die moralisch erbauliche Geschichte erzählt, wie es mir gelang, in die Royal Academy aufgenommen zu werden, ohne dass es mir zusteht«, meinte Margie.
Sverre fiel auf, wie selbstverständlich sie mit ihrem charakteristischen Akzent sprach, ohne auch nur ein einziges Mal über eine Silbe zu stolpern. Sie hatte die Rolle der wohlerzogenen, aber schweigenden jungen Dame weit hinter sich gelassen. Und wie sie es angekündigt hatte, erzählte sie den beiden neu
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