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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Ball hinterherzuschauen. Neben ihm saß der ihm so vertraute Mann und offenbarte eifrig gestikulierend und schwadronierend ganz neue Seiten seiner selbst.
    Sinn der Diskussion war es eher, die gegensätzlichen Auffassungen anzufachen, als zu einem gemeinsamen Schluss zu kommen. Sie entwickelte sich zunehmend zu einer Art Zweikampf zwischen Lytton und Albie, und ­Sverre war nicht in der Lage, zu entscheiden, wer der top dog war, obwohl er intuitiv Albies Partei ergriff, bis sich dieser irgendwie in das griechische Ideal des älteren und des jüngeren Mannes verhedderte, so wie es Oscar Wilde dargestellt hatte.
    »Ha! Jetzt habe ich dich doch!«, triumphierte Lytton und begann auf und ab zu gehen, während sein roter Bart vor Eifer wippte.
    »Der freie griechische Mann, den du unglücklicherweise erwähnt hast, Albie, bestieg mit Lust und Liebe seine Sklaven, seine Kriegsgefangenen, seine Frau und natürlich auch den einen oder anderen Knaben, der ihm in den Weg kam. Das war sein Vorrecht als überlegener Mann, egal, ob er Krieger oder Philosoph war. Undenkbar wäre jedoch gewesen, sich mit einem anderen freien Mann zu verlustieren, ganz zu schweigen davon, dass sich dieser mit ihm verlustiert hätte. Der Akt an sich war weder ein Ausdruck der Liebe noch der Zärtlichkeit und noch viel weniger der intellektuellen noch anderer Gleichstellung. Das ist alles Unsinn. Für uns Urninge gibt es keine griechischen Ideale.«
    »Urninge?«, fragte Albie erstaunt und begriff zu spät, dass er auf Lyttons Lieblingstrick hereingefallen war, bei verbalen Duellen die Initiative zu behalten, indem er den Gegner am Ende einer Erklärung mit etwas Unbekanntem überraschte.
    »Genau, Urninge«, fuhr Lytton zufrieden fort. »Wenn ich es richtig verstanden habe, seid ihr beide eher nach Deutschland orientiert. Magnus Hirschfeld lanciert in seinem neuesten Werk, dem ›Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‹, das vor zwei Jahren erschienen ist, ein drittes Geschlecht. Eben jene Urninge. Im Übrigen vertritt er die These, dass es zu unseren Eigenarten, also denen der Urninge, gehört, nicht pfeifen zu können.«
    Lytton pfiff demonstrativ, alle lachten, und somit hatte er Albie überrumpelt und besiegt. Zu Fall gebracht, könnte man sagen. Sverre fand diesen Wortwechsel sowohl unsympathisch als auch sinnentleert.
    *
    Es dauerte bedeutend länger, nach Newcastle zu reisen als nach Paris. Der Zug fuhr frühmorgens ab und würde erst am späten Abend sein Ziel erreichen.
    Am Vorabend in Bloomsbury war es spät geworden, und Sverre fühlte sich während der ersten Stunden, in denen er zu schlafen versuchte und gleichzeitig das Schlagen der Räder auf den Schienenstößen verfluchte, sehr verkatert.
    Mittlerweile war er im Besitz eines Patents für die neue Radkonstruktion. Die Prototypen hatten im letzten Jahr am Privatwaggon des Gutes Manningham perfekt funk­tioniert. Allen Gästen war der beachtliche Unterschied aufgefallen.
    Die Freude über das Patent währte allerdings nur kurz. Keine Eisenbahngesellschaft wollte Geld in die Innovation investieren. Man war der Meinung, dass die zusätzlichen Kosten durch keinen Wettbewerbsvorteil aufgewogen wurden. In gewissem Sinne waren die langwierigen metallurgischen Studien, alle Reisen zu Spezialisten in Sheffield, alle Experimente mit verschiedenen Arten von Rohgummi und alle Grübeleien also vergeblich gewesen.
    Sein Versuch, anhand seiner technischen Kenntnisse die Welt zu verbessern, war gescheitert, und vier Jahre seines Lebens waren vergeudet. Immerhin gab es auf Manningham zwei neu entwickelte Traktoren, die mit Dieselmotoren ausgestattet waren. Sachlich betrachtet hatte Albie die Nase vorn. Aber die allgemeine Entwicklung vollzog sich in rasendem Tempo. Es gab viel zu viele Traktorentypen, als dass man das in jeder Beziehung überlegene Manningham-Modell hätte patentieren lassen können. Jede einzelne ihrer Verbesserungen und Erfindungen war zu geringfügig, auch wenn sie in ihrer Gesamtheit ein sehr gutes Resultat ergaben.
    Als Ingenieur hatte er bisher also nichts von besonderem Wert geleistet. Und als Künstler? Diese Frage wagte er sich kaum zu stellen.
    Kunst war nicht nur Technik, also nicht nur die Fähigkeit, eine Hand zu zeichnen. Das beherrschte er. Aber Kunst war auch die Fähigkeit, die Wirklichkeit so unwirklich darzustellen, dass sie noch wirklicher wurde oder so ähnlich. Diese Dinge ließen sich nur schwer in Worte fassen. Die Fähigkeiten eines Matisse. Oder ein

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