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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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seiner alten Freundin folgen. Für diese Strecke von rund hundert Kilometern Luftlinie brauchte er etwas mehr als drei Wochen, in deren Verlauf er sich Tag für Tag ans Wasser setzte, um Forellen zu angeln und Siesta zu halten. Darin lag das Geheimnis der Hüter der Flüsse: Sie durften sich nie von den Wasserläufen entfernen. Das Ärgerliche war, dass die Hornochsen aus der Stadt ihr Einkaufszentrum
weit vom Pearl River errichtet hatten. Daher musste Opa an jenem Tag den Bus nehmen. Er trug einen Strohhut und hatte seine Augen hinter dunklen Gläsern verborgen, damit die anderen Fahrgäste im Bus nicht mitbekamen, dass er zusehends älter wurde. Zwar nicht besonders viel, aber immerhin. Einige zusätzliche Falten, die sich einstellten, sobald er das blitzende Wasser des Pearl River nicht mehr sehen konnte.
    Als Opa am Einkaufszentrum von Meridian ausstieg, war er auf wenigen Kilometern um zehn Jahre gealtert. Vor allem hatte er den Eindruck auszutrocknen. Er trank an einem Getränkestand ein Bier, nahm dann seinen ganzen Mut zusammen und durchstreifte die Gänge des größten Spielzeugladens der Gegend. Schließlich kaufte er für Gordon einen Baukasten für ein wunderbares Schiffsmodell, einen stolzen Dreimaster. Während er, das Geschenk unter dem Arm, den Parkplatz überquerte, um zur Bushaltestelle zu gelangen, dachte er an die vielen Stunden, die er damit zubringen würde, das Schiff gemeinsam mit dem Jungen zusammenzusetzen. Sie würden die kleinen Teile mit Leim bestreichen, dabei klebrige Finger bekommen und süße Limonade trinken. Den Lieferwagen, der genau in dem Augenblick anfuhr, als ein Windstoß seinen Strohhut fortriss, sah er nicht. Zwar stieg der Fahrer mit aller Kraft auf die Bremse, als er sah, dass der Alte auf der Jagd nach seinem Hut zwischen den geparkten Autos hervorkam, doch konnte er ihm nicht ausweichen, und mit einem hässlichen Geräusch brach ihm die vordere Stoßstange beide Oberschenkel. Noch während er auf den Asphalt fiel, versuchte Opa, das große Geschenkpaket schützend an sich zu drücken. Es dauerte nicht lange, bis der Rettungswagen kam, und mit Erleichterung stellte man fest, dass Opa zwar ziemlich mitgenommen war, aber immerhin noch lebte. Noch in seiner tiefen Ohnmacht hielt er das Paket fest umklammert.

    Mit jaulender Sirene brachte ihn der Rettungswagen ins Krankenhaus von Meridian, wo man seine Verletzungen behandelte. Da aus seiner Bewusstlosigkeit nach einer Weile ein tiefes Koma wurde, empfahl man den Angehörigen, ihn nach Lake View ins Pflegeheim zu bringen. Während Gordons Vater den Hochglanzprospekt durchblätterte, der schöne Gebäude mit Säulenvorhallen und lächelnden alten Menschen zeigte, erkundigte er sich, was ihn der Spaß kosten würde. Als der Arzt es ihm sagte, zerriss er den Prospekt und erklärte, man solle den Alten in ein Vertragsheim der Medicaid bringen. Das geschah noch am selben Abend, und die Ambulanzfahrer kamen aus dem Staunen nicht heraus, als sie sahen, wie sehr der Kranke unter seiner Sauerstoffmaske alterte, während er sich vom Pearl River entfernte. So also landete Opa eines späten Abends in der Sterbeanstalt von Parchman.
    Walls nimmt seine Hand von der Stirn des Alten. Er hat eine letzte Erinnerung wahrgenommen, die ihn unter Tränen lächeln lässt. Er kniet sich auf den Boden und sucht unter dem Bett herum. Seine Finger stoßen auf ein großes, staubbedecktes Paket. Er holt es heraus und reißt langsam das Geschenkpapier mit den verblichenen Farben auf. Die Master of the Seas , ein herrlicher Dreimaster aus dem 17. Jahrhundert, der zwischen Boston und Amsterdam verkehrte. Er öffnet den Umschlag, der in der Verpackung steckt, nimmt eine Karte heraus und klappt sie auf. Ein knackendes Geräusch lässt ihn zusammenfahren. Die Kunststoffnachbildung einer Mausefalle ist über seinen Fingern zusammengeschnappt. Walls lacht laut auf. Genau das war die Art von Scherz, mit der Opa Gordons Mutter immer wieder zur Weißglut gebracht hatte. Auf der Karte stehen einige Worte, die er sich laut vorliest:
    Für Gordon Chester Walls.
    Damit du dich an den Tagen beschäftigen kannst, an denen du nicht zur Schule gehst.
    Dein dich liebender Opa.
    Die Geräte fangen in dem Augenblick an, verrückt zu spielen, da sich Walls’ Finger um die Hand des Alten legen. Es riecht nach Moos und schäumendem Wasser, nach den Ufern des Pearl River, nach Sonnenlicht, das durch das Blattwerk dringt. Walls schließt die Augen. Die Vision füllt seinen Geist

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