Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Strom für längere Zeit ausgefallen, und nicht mal das hat ihn umbringen können. Also bleibt uns nichts übrig, als ihn hierzubehalten und von Zeit zu Zeit reinzugehen, ihm’nen neuen Tropf anzuhängen und die Bettwäsche zu wechseln, während wir darauf warten, dass er endlich abkratzt. Sind Sie gekommen, um die Geräte bei ihm abzuschalten?«
»In welchem Zimmer liegt er?«
»27, zweiter Stock, ganz hinten im Gang. Man hat ihn dahin verlegt, weil das Zimmer dem Notausgang am nächsten liegt.«
»Für den Fall, dass das Gebäude geräumt werden muss?«
»Na ja, die Tür funktioniert nicht mehr. Wenn es also mal brennt …«
Glen hört mitten im Lachen auf. Er verzieht das Gesicht und fährt sich mit den Händen an die Schläfen. Seit einigen Sekunden hat er bohrende Kopfschmerzen. Anfangs waren sie noch erträglich, aber jetzt wird es immer schlimmer. Es ist so, als dringe ein Zwölfer-Bohrer durch sein Gehirn, wobei er einen blutigen Tunnel hinterlässt. Als Glens Blut in dicken Tropfen auf die Papiere vor ihm zu fallen beginnt, nimmt Walls den Druck zurück. Der Pfleger wischt sich die Nase und betrachtet seine Hand.
»Also 27?«
»Ja, verdammt noch mal.«
Walls tritt in den Aufzug. Als sich die Tür schließt, sieht er, dass Glen den Kopf in den Nacken legt und sich die Nase mit einem Papiertaschentuch betupft. Im zweiten Stock geht Walls durch einsame lange Korridore. Er kommt an Zimmern vorüber, aus deren angelehnten Türen Schnarchgeräusche und der Geruch nach Formalin dringen. Ganz hinten zittert das Licht einer Notbeleuchtung in der Dunkelheit. Er legt die Hand auf die Klinke des Zimmers Nr. 27 und öffnet die Tür. Die Geräusche der Maschinenmedizin. Er bleibt eine Weile an der Tür ste hen, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Dann erkennt er einen Schrank, ein Tischchen und ein Bett. Hinten führt eine weitere Tür zur Toilette. Er ertastet den Schalter, und Leuchtstoffröhren flammen auf, werfen ihr bleiches Licht auf den schlafenden Greis. Walls spürt, wie sich seine Kehle zusammenzieht. Seit er die Mesa verlassen hat, hat er immer wieder versucht, sich die Szene vorzustellen, doch auf das, was er da sieht, ist er nicht vorbereitet. Er bringt es nicht über sich, den Blick auf das zu richten, was von seinem Großvater übrig geblieben ist. Er ist so abgemagert, dass sich die Rippen durch das Bettlaken abzeichnen. Die Schlafanzugjacke bedeckt die dürren Unterarme nicht vollständig. Die Brust hebt sich mit Mühe im Rhythmus des Beatmungsgeräts. Man hat den Eindruck, dass er sich gegen sie wehrt. Seit zwanzig Jahren versucht er zu sterben, was ihm aber nicht gelingt, weil sich sein Körper immer aufs Neue regeneriert. Trotzdem sieht er uralt und verbraucht aus, als habe man seinen Organismus an die äußerste Grenze seiner Belastbarkeit getrieben und dann liegen lassen, ein lebendes Wrack in einem endlosen Todeskampf.
Walls betrachtet das Gesicht seines Großvaters. Auf der Sauerstoffmaske zeigt sich ein leichter Dunst fleck. Er legt
eine Hand auf die faltige Stirn und fängt ferne Gedanken auf. Ein Murmeln. Erinnerungen. Er schließt die Augen. Jetzt begreift Gordon, was an jenem Tag geschehen war, seinem neunten Geburtstag.
Der Großvater hatte Gordons Mutter Wohlverhalten geschworen. Zwar hatte sie ihm kein Wort geglaubt, ihn aber dennoch eingeladen, weil sie es nicht übers Herz brachte, dem Schwiegervater den Besuch seines Enkels zu verwehren. So hatte sie ihrem Mann die Situation erklärt, weil dieser beinahe durchgedreht wäre, als er erfuhr, der Alte werde kommen. Opa war an jenem Tag gut gelaunt aufgestanden. Er hatte sich in seinen Sonntagsanzug geworfen und war sich mit den Fingern durch die Haare gefahren. Er wollte mit dem Bus in die Stadt fahren, um Gordon ein wunderschön eingepacktes Geschenk mit einer Schleife darum zu kaufen. Schon an der Haltestelle hatte ihn Beklemmung überfallen. Nichts war ihm so sehr zuwider, als sich von seinem Haus am Pearl River zu entfernen. Er wusste, dass es gefährlich war und ihn schwächte. Daher blieb er immer zu Hause und machte nur eine Ausnahme, um seine alte Freundin Akima auf der Pflanzung Ol’ Man River zu besuchen. Dann nahm er einen Brotbeutel und seine Angelrute und machte sich zu Fuß auf den Weg entlang der Wasserläufe bis zum Fluss Big Black, von wo es weiter bis zum Yazoo ging, der bei Vicksburg in den Vater aller Ströme mündete. Von dort aus musste er nur noch dem Mississippi bis zur Pflanzung
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