Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Schlagartig steigen ihm Schmerzen in den Nacken und breiten sich wie ein Spinnennetz über Schläfen und Stirn aus. Es kommt ihm vor, als liege jeder seiner Nerven bloß und sei wie eine Bogensehne bis zum Zerreißen gespannt. Als er die Augen leicht öffnet, dringt ihm ein Strom weißen Lichts wie Messerklingen in die Augäpfel. Er fährt sich mit den Fingern über das Gesicht. Außer den Nerven ist alles völlig empfindungslos. Das Blut erstarrt ihm in den Adern. Soeben hat er ein abnormes Pulsieren in seinem Gehirn entdeckt: In seinen Adern bilden sich Dutzende von Aneurysmen. Sie blähen sich auf wie Kaugummiblasen, sinken in sich zusammen und blähen sich erneut auf. Ihm ist klar, dass es sich hier um die Auswirkungen dessen handelt, was mit Miranda Stern geschehen ist. Er unterdrückt ein Stöhnen. Er weiß, dass er auf keinen Fall die Kraft hat aufzustehen. Ebenfalls weiß er, dass die Regulatoren seinen Aufenthaltsort entdeckt haben und schon bald da sein werden. Das wäre sein Ende.
Gerade als er beschlossen hat, dann lieber selbst Schluss zu machen, hört er ein widerwärtig lautes Geräusch. Es hallt wie Donner im Gebirge. Jemand klopft an die Tür. Der Zimmerservice. Inmitten der Bilder von aufgeschlitzten Pudeln und Kindern mit durchtrennter Kehle, die in seinem
Gedächtnis herumspuken, erinnert er sich, dass er wenige Minuten, bevor er sich auf das Chalet konzentriert hatte, Champagner bestellt hatte. Wieder der Donnerhall, weit stärker. Es gelingt Kassam, ein Wort hervorzustoßen, von dem er hofft, dass es das richtige ist. Die Tür öffnet sich in großer Ferne und streift dabei über den Teppichboden. Das erzeugt ein so grässliches Geräusch, als rolle ein Felsblock über Schotter. Kassam verzieht schmerzlich das Gesicht. Jeder Laut entlockt ihm Tränen des Schmerzes. Er muss um jeden Preis durchhalten. Erneut grollt der Donner. Eine Stimme, ebenso machtvoll und fern wie die Stimme Gottes. Der Kellner hat ihn gesehen, wie er da auf dem Bett liegt. Er stellt das Tablett auf den Tisch und kommt näher.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Trotz des fürchterlichen Lärms in seinem Gehirn bemüht sich Kassam, ruhig liegen zu bleiben. Erneut öffnet er die Augen ein wenig und erkennt ein verzerrtes Gesicht, das ganz nah und zugleich Tausende von Kilometern entfernt zu sein scheint. Eigentlich ist es kein Gesicht, sondern eher eine Ansammlung von Molekülen, deren Gesamtheit aussieht wie ein Gesicht. Ihm wird klar, dass der für die Steuerung des Sehens und Hörens zuständige Bereich seines Gehirns tief greifend gestört ist.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Kassam versucht zu verstehen, was der Zimmerkellner sagt, doch die Laute haben ihre Bedeutung verloren. Er verlässt sich auf seinen nach wie vor funktionierenden Geruchssinn und stellt fest, dass der Mann nach Hamburger und alkoholfreiem Bier riecht. Er muss jetzt ganz nahe sein. Er beugt sich über ihn. Wie ein Skorpion atmet Kassam ganz ruhig und wartet, bis die Beute in seine Reichweite kommt. Er weiß, dass er nur einen Versuch hat. Er umkrallt mit einer Hand die Kehle des Mannes und drückt dessen Luftröhre fest zusammen, um ihn möglichst schnell
außer Gefecht zu setzen. Mit der anderen tastet er über den schweißnassen Nacken. Keuchend versucht sich der Kellner zu befreien. Zwar ist er deutlich stärker als Kassam, vergeudet aber seine Kraft damit, dass er sich unter seinem Griff windet, statt sich wirklich zu wehren. Schon strömt das Blut in sein Gehirn zurück. Kassams Schmerzen sind so entsetzlich, dass er vor Begierde brennt, seine Zähne in die Sehnen und Knorpel zu schlagen, die unter seinen Fingern zucken. Er hält sich zurück. Der Mann keucht. Er erstickt. Schon laufen seine Lippen bläulich an, seine Augäpfel verfärben sich rötlich. Nach einem letzten Aufbäumen sinkt sein Körper reglos zusammen.
Kassam löst seinen Griff und konzentriert sich, alles auf das Gehirn des Mannes zu übertragen, was seinen Kopf anfüllt und sein Gedächtnis belastet. Noch ein Impuls, dann verschwinden die Aneurysmen eines nach dem anderen. Jetzt nimmt Kassam seinen eigenen, auf dem Bett liegenden Körper wahr, sein von Blut bedecktes Gesicht und seine weit aus den Höhlen getretenen Augen. Er richtet sich auf und betrachtet die Umrisse seiner neuen Hülle. Er heißt jetzt Andrew Billings und wohnt mit seiner Mutter und zwei Katzen im Durango Drive 105. Sein roter Lincoln steht auf dem Parkplatz des Kasinos.
Das Köfferchen mit den verschiedenen
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