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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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herunterbetet. Sie denkt an seinen Körper, an sein Geschlechtsteil in ihrer Hand, in ihrem Leib. Wie eine Halbwüchsige prustet sie vor Lachen, während sie das besonders gewagte Bild von sich schiebt, das sich vor ihrem geistigen Auge abzeichnet. Ihre ersten erotischen Gedanken seit Wochen. Jetzt setzt sie auf dem Laufband einen Fuß vor den anderen, ohne die entsetzten Blicke zu sehen, die ihr die Menschen zuwerfen, an denen sie vorüberkommt. Mit einem Mal hat sie den Eindruck, einen steilen Hang zu erklettern. Ihr Atem geht schwer. Ja, sie fühlt sich erschöpft und außer Atem, als steige sie eine endlose Leiter oder einen steilen Hang empor. Ein sonderbares Gefühl der Verlangsamung, ein Ziehen in den Muskeln. Sie wird immer kurzatmiger. Schließlich fallen ihr die entsetzten Blicke der Menschen um sie herum auf, und sie dreht sich um, weil sie sehen will, wen sie auf diese Weise anstarren. Sie verzieht das Gesicht. Ihr Nacken schmerzt. Hinter ihr ist niemand. Jetzt richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die anderen. Während sich manche bei ihrem Anblick die Hand vor den Mund schlagen, stoßen andere überraschte Schreie aus, doch die meisten begnügen sich damit, sie stumm und mit entsetzten Augen anzusehen.
    »Starren Sie etwa mich so an?«
    »Abby? Was sagst du?«

    »Das ist ganz sonderbar. Alle Leute starren mich an, als wäre ich eine Selbstmordattentäterin von al-Qaida mit einem Sprengstoffgürtel um den Leib. Mal im Ernst, Marvin, kann man eine schöne schwangere Pantherin wie mich mit einer verdammten Terroristin verwechseln?«
    »Wer spricht da? Abby, bist du das?«
    »Natürlich. Wer sollte ich sonst …?« Sie ist stehen geblieben. Sie kann nicht mehr. Sie muss sich ausruhen, nur einen Augenblick. Sie legt die Hände vor dem Unterleib zusammen und unterdrückt einen Ausruf des Entsetzens. Ihr Kleid ist nass. Sie hebt die Hände und stößt die Laute aus, die sie zuvor unterdrückt hatte. Ihre Finger sind voller Blut, aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind ihre Finger. Die Haut ihrer Hände hat ihre herrliche Ebenholzfarbe verloren. Ihre Finger sehen aus wie sichelförmige alte Krallen. Inmitten der Aufschreie der Menschen um sie herum hebt sie die Augen und erkennt in einem Spiegel das Bild einer sehr alten Schwarzen, der die Haare büschelweise ausfallen. Die Alte sieht Abby an. Genau wie sie führt sie den Arm zum Spiegel.
    »O Marv, hier ist was ganz Entsetzliches passiert. Ich … ich seh mich nicht mehr im Spiegel.«
    Krämpfe durchzucken Abby, als sie wahrnimmt, dass aus dem Mund der alten Schwarzen Blut kommt. Es läuft ihr über das Kinn und den Hals. Sie fasst mit einer Hand an ihre Kehle, die voller Falten ist und sich wabbelig anfühlt. Da begreift sie, dass sie sich selbst im Spiegel sieht, dass sie die Frau ist, auf die man mit Fingern zeigt. Manche erbrechen sich, andere werden ohnmächtig. Ein kleines Mädchen stößt einen schrillen Schrei aus, als sich etwas von der Alten löst und mit dumpfem Laut zu Boden fällt. Abby tut noch einige Schritte auf den Spiegel zu und sinkt dann langsam in die Knie. Rettungssanitäter eilen herbei. Man muss unbedingt dafür sorgen, dass sie sich nicht umdreht
und das kleine Geschöpf sieht, das aus ihr herausgefallen ist, sich am Boden windet und Jammerlaute ausstößt.
    Der Sanitäter, der als Erster bei ihr eintrifft, krümmt sich und übergibt sich so heftig, dass er sich auf die Hände stützen muss, um nicht umzufallen. Der andere bleibt reglos am Rand der riesigen Blutlache stehen. Das Geheul der Reisenden um ihn herum dringt kaum an sein Ohr. Fasziniert betrachtet er das Wesen, das da um sich schlägt. Es müsste ein Säugling sein. Der Mann beugt sich vor, während die Atmung des kleinen Geschöpfs langsam aussetzt. Es hat gerade noch genug Kraft, um seinen fleischlosen Arm auszustrecken. Tränen steigen dem Mann in die Augen, während sich die winzige faltige Hand um seinen Finger schließt. Er unterdrückt ein Schluchzen. Das Wesen vor ihm, das im Todeskampf liegt, ist ein winziger Greis von sechs Monaten.

TEIL NEUN
    HORNISSEN UND KATZEN

1
    Maria blinzelt im grellen Licht der Straßenlaternen, das von draußen hereinfällt. Sie sitzt hinter den Vorhängen eines schmuddeligen Motelzimmers in Clarksdale und beobachtet seit über zwei Stunden die Straße, wobei sie unaufhörlich raucht. Sie weiß nicht einmal genau, worauf sie achten muss und was sie notfalls zu tun hätte. Sie begnügt sich damit, die Umgebung zu mustern und

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