Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
nur noch ein riesiges Sumpfgebiet. Neera hebt den Blick. Die Hüter der Flüsse erwarten sie am Ufer. Sie tragen sie zum Lager, in dem sich die Überlebenden der Mondleute seit Wochen in kleinen Grüppchen sammeln. Sie fallen einander um den Hals, wenn sie sich wiedererkennen. Sie beweinen ihre Toten und bewahren sie im Gedächtnis. Sie spüren, wie auch deren Geist dem Heiligtum entgegenstrebt, um sich mit dem der Lebenden zu vereinen.
In der Mitte des Lagers haben die Hüter eine große Rundhütte errichtet und darin die von ihnen ernährten und beschützten jungen Aïkane untergebracht. Trotz ihres zarten Alters sprechen sie inzwischen geläufig die Sprache der Mondleute und sind im Besitz des Wissens. Sie sind sehr blond, sehr schön und sehr traurig. Sie wissen, dass
die Mutter aller Mütter auf dem Weg zu ihnen ist, um zu sterben.
Die Hüter haben Neera auf dem Weg zur Hütte gestützt. Die Macht verzehrt ihre letzten Kräfte. Ehrfürchtig werfen sich die jungen Aïkane vor ihr zu Boden. Beim Anblick des vom Alter verwüsteten Gesichts füllen sich ihre Augen mit Tränen. Vor ihnen steht Gäa, die Erdmutter. Sie spüren die Wärme, die ihrem Körper entströmt. Man darf sich ihr nicht zu sehr nähern, denn sie ist gefährlich heiß. Neera konzentriert sich. Sie ist in zwischen so mächtig, dass sie den Lauf des Vaters aller Ströme ändern könnte, indem sie einfach die Arme über seiner Oberfläche ausstreckte. Dazu wäre nur der Gedanke nötig. Jetzt sieht sie die Aïkane eine nach der anderen an. Sie nennt sie beim Namen, sagt ihnen, dass für die Mondleute die Stunde gekommen sei, sich zu zerstreuen, weil eine Zeit näher rückt, in der Dinge geschehen, die schon einmal geschehen sind. Sie spricht zu ihnen von der großen Verwüstung, welche die Erdmutter in den künftigen Jahrtausenden vorausgesehen hat. Sie enthüllt ihnen den Namen dessen, durch den das Unheil über die Erde kommen wird. Sie mahnt sie, nicht zu verzweifeln und die Macht auf künftige Aïkane zu übertragen, damit der Orden der Verehrungswürdigen Mütter überdauert.
Neera hat geendet. Sie ist erschöpft. Sie legt den Mädchen die Hände auf die Stirn. Jeder von ihnen überträgt sie eine der sieben Mächte Gäas. Während sie die Energie, die sie verzehrt, weitergibt, wachsen die Mädchen und beginnen zu altern. Nach und nach erschlafft ihre Haut. Die Jahre ziehen in ihren Augen dahin. Ihre Haare werden weiß. Sie konzentrieren sich auf die Macht, die ihren Geist anfüllt. Der Vorgang des Alterns hat aufgehört. Sieben herrliche Greisinnen mit blauen Augen und weißen Haaren richten jetzt den Blick auf den mumifizierten Leib der Mutter aller Mütter. Neeras Lebensweg ist zu Ende.
Sieben tiefblaue Augenpaare folgen ihr, während die Hüter sie ihrer letzten Zuflucht entgegentragen.
Draußen haben sich die Überlebenden der Mondleute in acht Gruppen aufgeteilt. Ein letztes Mal haben Freunde einander begrüßt. Kinder wie Frauen haben einander umarmt. Jetzt ziehen sieben neue Stämme in unterschiedliche Richtungen, an ihrer Spitze die Hüter und die Verehrungswürdige, die den Stamm beschützen wird.
Die achte Gruppe hat mit ihrem Aufbruch gewartet, bis die anderen fort sind. Die letzten Hüter und die letzten Überlebenden der Mondleute. Wochenlang sind sie durch das sumpfige Land gezogen. Dann, als der Boden unter ihren Füßen wieder fest wurde, haben sie sich nach Süden gewandt und sind dem Lauf zahlreicher Flüsse gefolgt. Tagsüber haben sie sich verborgen gehalten und sind nur nachts weitergezogen. Sie haben die große Wüste und die heiligen Gebiete erreicht. Eine einsame Mesa, in deren Inneren sich eins der zahlreichen geheimen Kinder des Vaters aller Ströme ergießt. Sie haben die Mutter aller Mütter in die Tiefen einer Schlucht hinabgelassen und Wohnung in Höhlen genommen, die im Laufe der Zeit dort entstanden waren. Sie haben Neera in einen Eismonolithen eingeschlossen und dort ein Dutzend Jahre gelebt. Eines Tages dann kamen telepathische Botschaften von den sieben Verehrungswürdigen aus Neeras Volk. Darin hieß es, dass die ersten Kinder zur Welt gekommen seien und einige von ihnen bereits das Zeichen der Sehenden trügen. Daraufhin sind die sieben Verehrungswürdigen entsprechend Neeras Anweisungen verstummt, und die Hüter haben die Mesa verlassen, um erneut die Flüsse aufzusuchen. Damit der Erzfeind ihre Gedanken nicht entdecken kann, haben die letzten Diener der Mutter aller Mütter das Gift von Pflanzen
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