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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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etwas, das ihm folgt.«
     
    Während sich die beiden Stimmen vereinigen und die Neeras immer rauer wird, spürt sie auf ihren Handflächen,
wie Alyas Finger brechen, als wären sie Glas. Die Haut welkt und zerfällt zu Staub. Die Verehrungswürdige ist tot. Nur noch Neera spricht jetzt und beendet mit zittriger Stimme die Anrufung. Ihre Haare werden weiß und lang. Ihre Haut wird weich und bekommt Falten. Ihre Kinnbacken spannen sich an, während der heiße Strom von Gäas Macht ihren Geist erfüllt. Sie spürt, wie er sich erweitert, während sich die mentalen Welten der sieben Verehrungswürdigen der ihren hinzufügen. Sie nimmt Tausende alter Welten wahr, Milliarden von Bildern und Erinnerungen, die sich ineinanderschieben. Sie hört das Gemurmel Tausender von Verehrungswürdigen, die in Gäas Nachkommenschaft aufeinandergefolgt sind. Sie saugt deren Erinnerungen, deren Bewusstsein und die unermessliche Tiefe von deren Wissen in sich auf. Undeutlich sieht sie weitere ferne Welten, Sterne an den Rändern des Alls, herrliche Städte und Siedlungsschiffe von ungeheurer Größe, die sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen.
    Während Alya verdorrt, weitet sich Neeras Geist ins Unendliche. Es kommt ihr vor, als sei sie ein riesiges gefrorenes Meer, das keinen Boden hat. Sie erhascht einen Blick auf den großen Anfang sowie auf alles, das seit der Entstehung der Welt in unablässiger Folge je geendet und neu begonnen hat. Dann begreift sie unvermittelt. Sie sieht. Sie weiß es. Sie ist das Meer. Sie schreitet im Inneren des Meeres voran. Sie ist Gäa.

10
    Nahezu lautlos tauchen Paddel ins Wasser. Nachtvögel stoßen Schreie aus. Der Geruch von Farn und welkem Laub steigt Neera in die Nase. Ganz tief atmet sie ein, um bewusst die Düfte wahrzunehmen, die sie umgeben. Die
Welt riecht jetzt anders als zuvor: nach Zerfall, nach Edelfäule und Algen. Gerade ist Neera wach geworden. Sie sitzt im Heck eines Bootes, das langsam dahintreibt. Durch zusammengekniffene Augen sieht sie die glatte Oberfläche des Vaters aller Ströme im tiefroten Schein der Abendsonne. Sie schimmert wie ein blutroter flüssiger Spiegel.
    Die Strömung wird langsamer. Neera öffnet die Augen ganz. Das grelle Licht der untergehenden Sonne lässt ihr Tränen in die Augen treten, die sich in ihrem faltigen Gesicht verlieren. Sie richtet den Blick auf ihre dürren Hände und knochigen Handgelenke. Man könnte ihre faltige Haut für die eines Reptils halten. Sie hebt den Blick zu den Jägern, die im Boot knien und ihr huldigen. Die älteste und mächtigste Verehrungswürdige der Mondleute hat nur noch wenige Stunden zu leben. Sie weiß, dass Eko gestorben ist, während er sie in seinen Armen hielt. Sie weiß, dass er gleichzeitig mit ihr gealtert und verdorrt ist, während der Ghan-Tek seine Wesenheit in sich aufgenommen hat. Am Blick der Jäger erkennt sie, dass er sie bis zum Schluss nicht losgelassen hat. Wenn er es getan hätte, wäre sein Altern zum Stillstand gekommen. Stattdessen hat er Neeras Leib bis zum Schluss festgehalten, während seine Lippen rissig wurden und sein Gesicht erschlaffte. Bis zum Schluss hat er ihr seine Wesenheit, seine Kraft und sein Leben gegeben.
    Neera richtet ihren Blick auf die spiegelnde Oberfläche des Vaters aller Ströme und die hohen knotigen Bäume an dessen Ufern. Indem sie ihre ungeheuer langen Wurzeln ins grünliche Wasser senken, machen sie aus ihm eine Unzahl von Mäandern, die sich irgendwann in einen Sumpf verwandeln werden. Neera hört das Gesumm der riesigen Stechmückenschwärme, die das Boot umschwirren. Seit über drei Wochen gleitet die letzte Verehrungswürdige schlafend den Lauf des Vaters aller Ströme entlang, immer
der Mündung entgegen. Blasen von Sumpfgas zerplatzen an der Oberfläche. Das Boot passiert jetzt ein Gewirr riesiger Wurzeln, die wie Arme in das schlammige Wasser tauchen. Das weiche Land. Neera konzentriert sich. Ein Lächeln tritt auf ihre Lippen. Die von den Jägern mit Klek und Baummilch genährten sieben kleinen Mädchen haben Zuflucht im letzten Heiligtum gefunden. Sie befinden sich in Sicherheit; sie sind bereit.
    Mit den Fingerspitzen fährt Neera über die Bernsteinperle an ihrem Hals. Sie beginnt zu schimmern, wird warm und fühlt sich schwer und voll an. Sie schließt den Kern von Gäas Macht in sich, die sie auf die kleinen Mädchen übertragen wird, bevor sie stirbt. Der Wiederbeginn der Erdmutter.

11
    Die Strömung des Flusses hat vollständig aufgehört. Hier ist er

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