Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
lauwarm und fast weich. Die Vision endet schlagartig. Maria beugt sich vor und erbricht Gin auf den Fußboden ihres Wohnzimmers. Sie hat verloren.
8
Maria richtet sich wieder auf. Ihr Gesicht verzieht sich vor Schmerzen – ein Magenkrampf. Ihr ist klar, dass sie aufhören müsste zu trinken. Sie will sich nicht länger morgens nach dem Aufstehen den Blick in den Spiegel versagen, oder sich, wenn sie die Augen aufschlägt, im eisernen Griff ihres Jugendfreundes, des Sheriffs, unter der Dusche
wiederfinden. Es stört sie nicht einmal, dass er ihre Brüste oder ihre Scham sieht. Ein schlechtes Zeichen. Trotzdem macht sie weiter, um so schnell wie möglich den Dämmerzustand zu erreichen, in dem nichts mehr an sie herankann. Dazu braucht sie einen ganz bestimmten Alkoholpegel – nicht mehr, aber vor allem nicht weniger. Außer wenn sie im Einsatz ist. Dann trinkt sie nie. Was ihr entsetzlich fehlt, wenn sie auf sich selbst zurückgeworfen ist und sich ausschließlich ihren toten Erinnerungen gegenübersieht, ist die Gefahr. Sie ist das Einzige, was sie noch am Leben erhält. Die Gefahr und die Angst.
Seit ihrem Unfall hatte sie stets den Eindruck, eine gespaltene Persönlichkeit zu sein. Die Schnapsdrossel Maria, die darauf angewiesen ist, sich volllaufen zu lassen, damit sie weiterhin ihre Arbeit tun kann, und die Mörderin Maria, deren Lächeln sich irgendwo in ihrem Gehirn herumtreibt. Dank Daddy weiß sie endlich, wie die andere heißt. Maria Gardener. Gardener jagt mit Begeisterung Serienmörder, Parks nicht. Parks ist die depressive Untersuchungsbeamtin, die Indizien sammelt und Schritt für Schritt den Spuren nachgeht. Dieser Teil Marias hat es satt, allein zu sein, und er heult wie ein Schlosshund, wenn sie sich einen alten Kino-Schmachtfetzen ansieht und dabei mit Puffmais vollstopft. Gardener hingegen geilt sich am Anblick von Tatort-Fotos geradezu auf oder auch damit, dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit jemandem die Knarre über den Schädel haut. Die Aufforderung, sich zu ergeben, ist Parks’ Angelegenheit. Gardener wird wütend, wenn ein Mörder die Hände im Nacken verschränkt und in die Knie geht, kommt aber richtig in Fahrt, wenn er nicht daran denkt aufzugeben. Den Finger am Abzug, wartet sie, bis Parks die gesetzlich vorgeschriebene Formel heruntergebetet hat, ordentliche kleine Beamtin, die sie ist.
Maria ballt die Hände zu Fäusten. Sie gesteht sich ein,
dass nicht die Bilder, die sie in Rio gesehen hat, sie mit Entsetzen erfüllen, sondern Gardeners Erinnerungen. Sie kommen jetzt in ihr hoch wie das schwarze Wasser, das im Begriff steht, über die Krone einer Sperrmauer zu steigen. Es ist Maria klar, dass die Mauer jeden Augenblick nachgeben wird. Sie versucht, sich abzuschirmen, aber Gardener hat schon den Fuß in die Tür gestellt. Bisher war es beiden gelungen, einander nicht zur Kenntnis zu nehmen, wie Zwillingsschwestern, die sich nicht ausstehen können, aber Daddys Tod hat sie auf alle Zeiten wieder zusammengeführt. Es war sein Abschiedsgeschenk.
9
Maria hat nicht einmal gemerkt, dass sie nach oben gegangen ist und jetzt vor der Tür des Schlafzimmers ihrer Eltern steht, das sie seit deren Tod nicht wieder betreten hat. Neue Risse zeigen sich in der Mauer der Talsperre. Gefrorene, erstarrte Erinnerungen.
Die Rückkehr vom Tahoe-See. Sie ist sechzehn Jahre alt, glücklich, verliebt und gebräunt. Sie hat zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen, in einem Zelt am Ufer des Sees. Brett Chandler ist hochgewachsen, pickelig und dürr. Eine unbeholfene und schmerzhafte Angelegenheit. Sie hat sogar geraucht, ganz wie eine Erwachsene, nachdem sie Höschen und T-Shirt wieder angezogen hatte. Ihr erster Kerl, ihre erste Zigarette. Mit sechzehn.
Als der Bus, der sie vom Flughafen Portland zurückbrachte, den letzten Anstieg vor Hattiesburg hinter sich hatte, waren Maria aufblitzende Rundumleuchten in der Ferne aufgefallen. Der damalige Sheriff hatte Herb Sedgewick geheißen. Ein gemütlicher älterer Mann mit blauen Augen, dessen eisgrauer Schnurrbart sein Gesicht zum
Teil verdeckte. Er wartete inmitten der anderen Eltern. Sie hatten Maria ganz seltsam angesehen, als sie aus dem Bus stieg. Sie hatte sich nach ihren Adoptiveltern umgesehen. Als sich ihre Blicke mit denen des Sheriffs kreuzten, war ihr aufgegangen, dass er ihretwegen dort war. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken, als er ihr die Hand auf den Arm legte. Maria erinnert sich, dass sie ihn mit Tränen in
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