Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Botenstoff nicht freisetzt. Noch besser wäre es, wenn man erreichen könnte, dass es einen anderen Botenstoff freisetzt, der dafür sorgt, dass sich das Körpergewebe verjüngt, statt nach und nach zu verfallen. Zwar würde das noch nicht das ewige Leben bedeuten, wohl aber einen großen Schritt auf dem Weg dorthin.
Man hatte Jürgenstein über seinem Schreibtisch zusammengesunken gefunden, das Gesicht von tiefen Falten entstellt und die Organe von einem Dutzend verschiedener Krebsarten zerfressen. Er schien sich unmittelbar vor seinem Tod mit einem folgenschweren Projekt beschäftigt zu haben, denn man hatte mit großer Umsicht seine sämtlichen Arbeitsunterlagen beseitigt, bis auf ein zerknülltes Stück Papier, das in seiner Kehle steckte. Nach Ansicht der deutschen Polizei hatte Jürgenstein es noch rasch herunterschlucken wollen, als er merkte, wer da kam.
Nach einer Öffnung der Speiseröhre hatte der Gerichtsmediziner das Blatt herausgenommen und vorsichtig geglättet. Der Speichel hatte einige Zeilen des offensichtlich
in aller Eile und im Telegrammstil aufs Papier geworfenen Textes unlesbar gemacht. Er hatte das Blatt unter eine Glasplatte gelegt, um es zu fotografieren, bevor der Speichel noch weitere wertvolle Hinweise vernichtete. Ein weitblickender Mensch. Crossman hatte der Akte eine Vergrößerung des Fotos beigegeben. Jürgenstein hatte geschrieben:
Manhattan-Projekt = Akte Idaho Palls
Christiansen und Bishop hatten recht.
Wer bringt uns um?
Darunter hatte er, unübersehbar in großer Eile, verschiedene Zeichen aufs Papier geworfen. Man konnte sie für eine Art in einer unbekannten Sprache abgefasste magische Formel halten. Maria lässt die Zigarette in ihren Kaffeebecher fallen und liest die letzten Seiten, die ihr Crossman zugefaxt hat.
5
Vier Jahre zuvor war in der Nähe von Idaho Falls in den Rocky Mountains ein Rettungstrupp, der den Auftrag hatte, eine Gruppe von Höhlenforschern, von denen man längere Zeit nichts gehört hatte, aufzuspüren und gegebenenfalls zu retten, am hintersten Ende einer tiefen Schlucht auf eine bis dahin unbekannte Höhle gestoßen. In ihrem Inneren, das Menschen der Vorgeschichte möglicherweise als Heiligtum gedient hatte, hatten sie die Leiche eines Bergsteigers gefunden, der seiner Ausrüstung nach zu Beginn des 20. Jahrhunderts umgekommen sein musste. Seine von zahlreichen Schürfwunden bedeckte Haut war bläulich verfärbt – die Einwirkung starker Kälte.
Maria lässt ihren Leuchtstift über die ersten vom Rettungstrupp gemachten Fotos laufen. Ein sandiger Boden, eine Art Teppich aus dunkelblau schimmernden getrockneten Blumen. Als einer der Retter eine davon aufnimmt, zerfallen die Blütenblätter auf seiner Handfläche zu Staub. Der Mann ist ein Profi, dem die Anwesenheit eines Leichnams keinen Schrecken einjagt. Ihm ist klar, dass die wahren Indizien anderswo zu suchen sind. Er ist wie Maria: Wenn er ins Kino geht, achtet er auf die Einzelheiten im Hintergrund, die nicht einmal dem Kameramann aufgefallen sind.
Auf dem nächsten Foto wischt der Mann seine Hand an der Hose ab, wobei er eine schwärzliche Spur auf dem Stoff hinterlässt. Er weist auf den vor der Wand knienden toten Bergsteiger, dessen Gesicht eine Schicht Raureif bedeckt. Den rechten Arm hat er erhoben, zwischen den Fingern hält er einen Notizblock. Eis bedeckt das Blatt, auf das er vor seinem Tod einige Zeilen hatte schreiben können. Das nächste Foto: In Großaufnahme weist der Finger des Mannes für den Fotografen auf Vertiefungen in der Höhlenwand. Maria nimmt eine Lupe zur Hand. Sie ist wie gebannt – die Zeichen, die sie da sieht, ähneln denen, die Jürgenstein in aller Eile auf sein Blatt gezeichnet hatte. Vorgeschichtliche Inschriften, die der Bergsteiger in der Höhle am Ende der Schlucht abgezeichnet hatte, während der Tod nach ihm griff. All das hatte man in einem Bericht zusammengefasst und an die besten Spezialisten der Erde geschickt, die jetzt einer wie der andere einer unvorstellbaren Beschleunigung des Altersprozesses zum Opfer gefallen waren. Die Akte Idaho Falls.
Maria liest Crossmans Bericht zu Ende. Unmittelbar, nachdem die deutsche Polizei die Leiche Dr. Jürgensteins entdeckt hatte, war das Original jener Akte aus dem Tresorraum des Museums verschwunden, zusammen mit den
verschiedenen Proben und Mustern, welche die Wissenschaftler in der Höhle entnommen hatten.
Erneut wendet sie sich den Bildern des Mannes zu, der das Objektiv des Fotografen lenkt. Sie
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