Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
ich. Ausgerechnet du musst mir das sagen. Wer lässt sich denn jeden Abend volllaufen, um vor seinen Visionen zu fliehen?«
»Darum geht es nicht, Cayley.«
»Und deine Träume?«
»Träume habe ich ständig.«
»Ach Quatsch, Maria, du weißt genau, was ich meine.«
Sie versucht, dem Alten durch den Rückspiegel in die Augen zu sehen. Gerade haben sie das Ortsschild hinter sich gelassen. Willkommen in Hattiesburg. Maria verzieht das Gesicht. Ein Sprayer hat die beiden ersten Wörter übersprüht und seine eigene Version hergestellt: Beschissenes Hattiesburg.
»Die jungen Leute sind unmöglich.«
»Kinder von Leuten, die Demokraten wählen.«
Maria lächelt betrübt. Sie hat den Eindruck, dass es Cayley immer schlechter geht, je weiter sie sich vom Milwaukee Drive entfernen. Er ist nicht nur unglücklich, sondern wirkt hinfällig. Jetzt fährt sie durch die verlassen daliegende Hauptstraße von Hattiesburg. Sie zwinkert im grellen Licht des frühen Morgens. An der Ecke der Cuney und Hall Street sieht sie die Fahrräder der Hanson-Zwillinge am Boden liegen. Ein Rad dreht sich noch, als hätten die Kinder sie vor wenigen Augenblicken erst da hingelegt. Jetzt fährt sie in Richtung Salem weiter. Niemand ist auf der Straße zu sehen.
»Was brauchst du am dringendsten, Maria?«
Ein Schauer überläuft sie, als sie Cayleys Stimme hört. Sie klingt viel älter als sonst. Sein Gesicht scheint zu zerlaufen, während er mit rasender Geschwindigkeit immer älter wird. Sein Atem geht pfeifend. Er ist erschöpft, legt den Kopf auf die Lehne des Vordersitzes und schließt die Augen.
»Was ist mit dir, Cayley? Zum Kuckuck, kannst du mir nicht sagen, was hier vor sich geht?«
»Schon gut, Maria. Das ist nur eine von deinen Visionen. Bring mich in die Irrenanstalt, dann kannst du auf deiner Veranda aufwachen und weitermachen, als ob nichts wäre.«
Sie blickt in den Rückspiegel. Cayley sieht aus, als sei er auf dem letzten Kilometer fünf Jahre älter geworden. Er kann jeden Augenblick sterben. Mit jeder Radumdrehung, die sich der Wagen von Hattiesburg entfernt, stirbt er ein wenig mehr.
»Das reicht jetzt.«
Maria fährt an den Straßenrand, nimmt einen Arm Cayleys, knöpft den Hemdsärmel auf und rollt ihn bis zum Ellbogen hoch.
»Was treibst du da?«
Sie dreht den Arm um.
»Verdammt...«
Kaum wahrnehmbar hat sie inmitten der Falten unmittelbar oberhalb des Handgelenks eine Tätowierung mit zwei Halbmonden entdeckt. Die Farben sind verblasst, aber es ist genau dieselbe, die sie auf dem Unterarm von Hezels Liebhaber gesehen hatte. Sie wendet, dass die Reifen quietschen, und kehrt mit Höchstgeschwindigkeit nach Hattiesburg zurück. Am Ortseingang sieht sie, wie Cayley schwach atmet. Der alte Halunke wird sich doch nicht über sie lustig machen? Ein Blick in den Rückspiegel zeigt ihr, dass sich seine Falten glätten. Sie reißt das Steuer herum, um dem Kleinbus auszuweichen, der auf einmal in ihrem Gesichtsfeld aufgetaucht ist. Ihr Wagen stellt sich quer. Wütendes Hupen. Der alte Kirby steckt den Arm zum Fenster hinaus und macht eine drohende Faust.
Maria hält vor MacDougalls Gemischtwarenhandlung, legt den Kopf auf das Lenkrad und wartet, bis sich ihr Puls beruhigt. Ihre Kehle ist ausgedörrt. Sie braucht dringend einen Schluck Gin. Eine Tür schlägt. Cayley hat sich neben sie gesetzt und ihr eine Hand auf den Schenkel gelegt.
»Tu sie weg, Cayley. Du hast mich heute Nacht schon nackt gesehen, ich glaube, das genügt.«
Der Alte lächelt.
»Ich steig hier aus. Fahr vorsichtig.«
»Cayley.?«
»Ja?«
»Was soll ich eigentlich in New Orleans tun? Ich meine, für die Kleine?«
»Das wirst du schon merken. Unterwegs triffst du Leute, die dir weiterhelfen.« Dann setzt er sich die Mütze auf die weißen Haare und sagt: »So, und jetzt hol ich mir bei dem schwulen MacDougall ’nen elektrischen Dosenöffner.«
Maria sieht ihm einen Augenblick nach. Dann lässt sie den Motor wieder an und fährt langsam zur letzten Tankstelle der Stadt. Sie kommt um vor Durst. Ihr Fuß berührt das Bremspedal, verharrt dort einen Augenblick, wechselt dann wieder zum Gaspedal, das sie hart durchtritt. Eine schwarze Qualmwolke kommt aus dem Auspuff, während ihr Pick-up einen Satz nach vorn macht. Sie steckt sich eine Zigarette an. Der Tabak brennt ihr in den Bronchien. Sie ist wieder unterwegs. Sie fühlt sich wohl.
TEIL SECHS
PUZZLE PALACE
1
Von einem Felsvorsprung aus sieht Burgh Kassam zu, wie der Tagesanbruch den
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