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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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anderen Angst hatten. Denn vor allem das fehlte ihm: der metallische Geschmack der Angst und die Alarmzeichen, die der Schmerz aussendet. Wie ein Legastheniker ausgeklügelte Strategien entwickelt, um erfassen zu können, was er liest, hatte er sein Handicap stets durch eine außergewöhnliche Intelligenz kompensiert, die es ihm gestattet hatte, unter den anderen nicht aufzufallen. Er hatte sich einfach das große Repertoire menschlicher Ausdrücke auswendig eingeprägt: die verzerrte Fratze der Wut, das entspannte Lächeln des Glücks, die Ausdrücke von Abscheu, Hass, Liebe und Furcht. Mit fortwährendem Üben vor dem Spiegel war es ihm gelungen, alle Empfindungen in vollkommener Weise nachzuahmen – mit Ausnahme von Scham und Mitgefühl. Vor allem Letzteres bereitete ihm Schwierigkeiten. Es war zu komplex, zu abstrakt. Als er sah, dass es nicht genügte, den Ausdruck zu übernehmen, den er in den Augen der anderen sah, hatte er versucht, Mitgefühl zu empfinden, indem er wehrlose Wesen tötete, frisch geschlüpfte Nestlinge, blinde Katzenjunge, soeben zur Welt gekommene Welpen. Er erstickte sie so langsam wie möglich im Versuch, ein wenig Kummer und Bedauern zu empfinden. Das aber hatte nicht genügt.
    Einen Menschen getötet hatte er zum ersten Mal mit dreizehn Jahren. Kyssa war seine Kindheitsfreundin, beinahe so etwas wie eine Schwester. Wie er gehörte sie zu den Unberührbaren, war schön und schmutzstarrend gleich einem Schmuckstück, das man im Boden vergraben hat. Sie war einem erwachsenen Mann aus dem Dorf versprochen.
Es war Burgh, den ihre Schönheit stets entzückt hatte, bewusst, dass Kyssa dies Strahlen in dem Augenblick verlieren würde, da ihr Mann sie entjungferte. Er hatte sich in der Abenddämmerung in einem Gebüsch am Ufer des Ganges mit ihr verabredet. Lautlos weinend hatte sie ihm mitgeteilt, sie dürften einander nicht mehr sehen, denn sie gehöre ab sofort dem, den sie heiraten sollte. Als ihr Burgh die Hände um den Hals legte, hatte sie anfangs geglaubt, er wolle sie trösten. Trotz ihres Entsetzens hatte sie sich kaum gewehrt, als er angefangen hatte, sie zu erwürgen. Die maßlose Angst und der Schmerz in ihren Augen... Er hatte versucht, beides mitzuempfinden, doch schon bald waren Kyssas Augen glasig geworden. Dann hatte er die Leiche in das braune Wasser des Flusses geworfen und sich unter dem Einfluss von etwas, das er nicht begriff, ans Ufer gesetzt und die Stirn gerunzelt. Es war eine sonderbare Empfindung, zugleich durchdringend und undeutlich, wie der Beginn eines Schmerzes. Enttäuschung. Ja, das war es: Seit ihn zum ersten Mal eine Schlange gebissen hatte, war Burgh davon überzeugt, dass die Unsterblichkeit, nach der er strebte, nur durch eine gründliche Kenntnis ihres Gegenteils zu erlangen war. Er musste zugeben, dass er sich geirrt hatte, doch rechtfertigte diese Schlussfolgerung seiner Ansicht nach den Tod der dummen kleinen Kyssa bei Weitem. Ganz von selbst hatten sich seine Lippen verzogen, als er spürte, wie Tränen zum ersten Mal über seine Wangen liefen, während sich das Wasser über dem leblosen Körper seiner Jugendfreundin schloss. Zwar empfand er nach wie vor weder Mitleid noch Scham, konnte aber seither lächeln und weinen.
    Einige Jahre später hatte ein weiteres mystisches Erlebnis sein Dasein tief erschüttert. Er hatte gerade seinen zweiten Doktortitel erlangt und sich eine Woche Ferien in der großen Atacama-Wüste gegönnt. Vierhunderttausend Quadratkilometer
Gebirge und Ödland, auf das es nur ein oder zwei Mal in hundert Jahren regnete. Er hatte das Minimum an Ausrüstung für diese Expedition mitgenommen, von der er hoffte, nicht zurückzukehren. Von Arica im äußersten Norden Chiles aus war er auf die dreitausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel liegende Hochfläche von Atacama gelangt. Dort war er immer geradeaus gegangen, dem sicheren Tod entgegen, nachdem er die letzten Wasserstellen hinter sich gelassen hatte. Nahezu eine Woche lang hatte er von seinen spärlichen Vorräten gelebt. Als seine Kräfte immer mehr nachließen, hatte er pro Tag nur noch wenige Meter zurücklegen können, und in den Augenblicken, in denen er noch bei Bewusstsein war, zwischen Felsen gekauert auf den Einbruch der Nacht gewartet. In diesem Zustand äußerster Erschöpfung und Überspanntheit war es zu der Begegnung gekommen. Aus der Leere des Landes war ein kleinwüchsiger Mann, den eine schwere Last niederzudrücken schien, mit sicherem Schritt auf ihn

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