Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
zugekommen. Er hatte sich über ihn gebeugt. Kassam, dem es so vorgekommen war, als lächle ihm der Mann zu, konnte sich gut an die Kälte erinnern, die sein Herz erfasst hatte, als er dessen Hand auf seiner Stirn spürte. Damals hatte er zum allerersten Mal wirklich etwas empfunden. Dies Etwas, das zugleich brannte und eiskalt war, voll und leer, schön und schauerlich, hatte sich wie ein schwarzer Ozean in seiner Seele ausgebreitet, während Unwetter, Erdbeben und Bilder von Massengräbern seinen Geist aufwühlten. Er nahm das Geheul von Milliarden Stimmen wahr, Milliarden nicht herangereifter Organismen, die von Milliarden Leibern ausgestoßen wurden, sah Milliarden von Leichen als Dünger für die alles verschlingende Erde.
Während ihm das Wesen durch Auflegen der Hände einen Teil seiner Schwärze und Macht übertrug, hatte Kassam gespürt, wie seine Kräfte allmählich zurückkehrten,
und begriffen, dass sich nicht nur der Tod über ihn gebeugt hatte, nicht nur das Nichts und die Leere, nicht nur die Zerstörung, das Chaos oder die Vernichtung. Nein. Die fleischgewordene Wesenheit, die ihn auf der Hochfläche von Atacama aufgesucht hatte, während er dort im Sterben lag, war das Gleichgewicht, die höchste Ordnung, die Macht des Universums. Der Weltenverschlinger.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war das Wesen verschwunden. Während seine Lunge die frische Luft des jungen Tages einsog, hatte Kassam den Eindruck gewonnen, heißer zu sein als die aufgehende Sonne und sich weiter auszudehnen als alles, was sie beschien. Im Verlauf einer einzigen Nacht der Qualen war er ein kleiner Teil der Kraft geworden, die dem Gestirn gebot, am Himmel aufzugehen, ein Teil des Gesetzes, das ihm befahl, die Welt zu erleuchten. Und während er sich erneut hinab in die Zivilisation begab, hatte sich sein Geist mit allen Gedanken der wimmelnden und schmutzigen Menschheit angefüllt, deren Licht er schon bald auslöschen würde, so wie er es am Ufer des Ganges mit Kyssa getan hatte.
3
Burgh Kassam nimmt einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und fährt sich mit der Hand über die trotz der Hitze völlig trockene Stirn. Er erhebt sich und macht sich wieder auf den Weg, wobei er sich im Schatten der Klippen hält, immer am Rande des Abgrunds entlang. Bis Puzzle Palace, dem im Untergrund der Wüste angelegten geheimen Stützpunkt, sind es noch knapp ein Dutzend Kilometer. Vier bis zum Elektrozaun, der die erste Sicherheitsschranke bildet, dann vier weitere bis zu den mit Scharfschützen bemannten Erdbunkern. Erst danach kommt der Eingang
zum eigentlichen Komplex: Ein am Fuß einer Klippe gegrabener Tunnel führt zu einem gewaltigen Eingangstor, das mehrere hundert Tonnen wiegt. Dahinter liegt Puzzle Palace. Ein ehemaliger Stützpunkt der amerikanischen Luftwaffe, dessen Raketensilos mitsamt den zugehörigen Einrichtungen und Räumen acht Tiefgeschosse einnahmen. In dieser von der amerikanischen Regierung in ein ultramodernes Labor umgewandelten atombombensicheren Anlage erprobte das Heer unter größter Geheimhaltung das Arsenal für die Kriege kommender Jahrhunderte: Langstrecken-Laserkanonen, Vorrichtungen zum Auslösen von Erdbeben und Tsunamis, synthetische Viren und chemische Waffen. Doch Puzzle Palace war mehr als das. Auch wenn die Anwesenheit des Militärs Kassam auf die Palme brachte, war ihm schon bald aufgegangen, dass sie zumindest zwei unschätzbare Vorteile hatte, auf die er ungern verzichtet hätte. Zum einen garantierte es ihm die ungestörte Ruhe, die er für seine Forschungsarbeiten brauchte, und zum anderen sorgte es dafür, dass kein Neugieriger die Nase in seine Angelegenheiten stecken konnte. Um die Dummköpfe vom Heer bei Laune zu halten, stellte er ihnen Jahr für Jahr dies oder jenes Vernichtungsspielzeug zur Verfügung, das sie auf den Kriegsschauplätzen des Nahen oder Mittleren Ostens erproben konnten. Solange das Heer da war, um für die Sicherheit der Anlage zu sorgen, und die untersten vier Geschosse ausschließlich der Stiftung zur Verfügung standen, war Kassam alles recht. Immerhin brachte die Stiftung die ungeheuren Beträge auf, die er Jahr für Jahr brauchte, nicht nur für die Gehälter der Ingenieure oder das Material, das jeweils dem neuesten Stand der Technik entsprechen musste, sondern auch für die Unmenge an Energie, die nötig gewesen waren, um mitten in der Wüste ein Kraftwerk zu errichten. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte der Stiftungsrat die dafür
erforderlichen
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