Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
mit der kühlen Luft aus der Klimaanlage des Wagens und verursacht ihr Schwindel. Sie muss gähnen. Ihre Lider sind schwer. Am Ende des grünen Tunnels dringt Sonnenlicht durch das Geäst. Als der Wagen wieder ins Freie gelangt, tanzen Lichtflecken auf der Windschutzscheibe. Jetzt wirken die Farben reiner und sonderbarerweise auch älter als zuvor. Das Wohnhaus ist weniger verfallen, als Maria angenommen hatte. Der Wirbelsturm scheint dort keine Schäden angerichtet zu haben. Sie sieht keinen vom Sturm umgestürzten Baum, keinen heruntergerissenen Ast.
Sie schüttelt den Kopf, um ihre Müdigkeit zu verscheuchen. Das lange Fahren hat sie erschöpft. Sie hält am Fuß der Freitreppe an und öffnet die Wagentür. Der Geruch nach Baumwollblüten und Tabak hängt in der Luft. Sie mustert die vierstöckige Fassade mit Holzbalkonen und zweiflügligen Fenstern.
Von der riesigen Veranda, die ums ganze Haus läuft, geht es ins Innere. Hinter der offenen Tür, vor der ein Holzperlenvorhang hängt, liegt alles im Dunkeln. Während Maria über die Veranda geht, knarren die Bretter unter ihren Füßen. Als sie ein Geräusch hört, bleibt sie stehen. Es klingt so, als knirschten die Seile einer Schaukel an ihren Ringen. Als sie die Ecke des Hauses umrundet, sieht sie ein Freiluft-Wohnzimmer voller riesiger Grünpflanzen vor sich. Die Hand dicht am Kolben ihrer Waffe, geht sie durch den Wald aus Pflanzenkübeln weiter. Zweige greifen nach ihren Schultern. Das Geräusch hat aufgehört. Auf der anderen Seite liegt eine weitere Veranda, die einen zum Mississippi hin offenen Halbkreis bildet. Das Wasser des Flusses blitzt etwa fünfzig Schritte vom Haus entfernt auf. Eine Karaffe mit Zitronenlimonade steht auf einem Tisch, daneben eine Zuckerdose und ein Teller mit Gebäck.
»Willkommen auf Ol’ Man River, Maria.«
Sie wendet sich um. Eine uralte weißhaarige Schwarze mit faltigem Gesicht sieht aus einem Schaukelstuhl zu ihr her. Sie raucht eine Zigarre. Obwohl der Blick ihrer weit geöffneten Augen, die so undurchsichtig sind wie die eines Blinden, ins Leere geht, folgt sie jeder Bewegung Marias, als wisse sie genau, wo sich die Besucherin befindet.
»Tritt näher. Willst du ein Stück Gebäck oder ein Glas Limonade? Die Zitronen kommen aus meinem Garten. Sie sind köstlich.«
»Sind Sie Akima?«
Mit einem Lächeln sagt die alte Dame: »So heiße ich. Du sprichst den Namen völlig akzentfrei aus. Das tun nicht viele, die nicht von hier sind. Komm, setz dich neben mich. Meine Augen sind schon lange tot, und ich muss dein Gesicht berühren, ganz wie die Blinden.«
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich das sage, aber Sie sind doch blind.«
Im Lächeln der alten Frau liegt ein Anflug von Spott. Sie wirkt gleichzeitig zutiefst gut und äußerst gefährlich. Maria setzt sich zu ihr. Akimas Nasenlöcher weiten sich. Sie wirkt konzentriert, hebt die Hände von den Knien und nähert sie Marias Gesicht. Es sind lange Finger, gewohnt, den Boden umzugraben und Baumwolle zu spinnen.
»Müssen Sie das wirklich?«
»Macht dir das Angst? Das wäre ein schlechtes Zeichen. Es würde bedeuten, dass du etwas zu verbergen hast. Aber vor der alten Akima darf man keine Geheimnisse haben. Keine, ist dir das klar?«
Maria beherrscht sich, während die rauen Finger über ihr Gesicht gleiten wie die langen Beine einer Spinne. Akima beginnt mit den Wangen, fährt anschließend um das Kinn herum – eine Art Gesamtaufnahme. Dann wendet sie sich, mit dem gleichen starren Lächeln wie zuvor,
den Einzelheiten zu: den Brauenbogen, den Augenlidern, den Ringen unter den Augen, der Nase. Maria spürt den Geschmack von Akimas erdigen Fingern auf ihren Lippen.
»Du bist sehr schön, Maria. Sehr schön und sehr traurig. Warum bist du so traurig, wenn du doch so schön bist?«
Maria spürt, wie ihr die Tränen in den Augen brennen. Während die Finger der Alten ihr Gesicht erkunden, hat sie den Eindruck, wieder ein kleines Mädchen zu sein. Ihr Kopf füllt sich mit alten Gerüchen: dem nach Dauerlutschern mit Pfefferminzgeschmack, nach Jod auf kleinen Wunden, nach welkem Laub und nach Schulhof. Sie schließt die Augen. Hüpfseile klatschen auf dem Pflaster, die Schaukel knirscht, der Wind heult im Geäst. Die Zeit zieht an ihr vorüber. Die weißen Korridore eines Krankenhauses. In ihrem Mund der Geschmack von Schokolade und von Erbrochenem. Der Atem der alten Frau beschleunigt sich. Sie nimmt ihre Hände mit einem Mal fort, als habe sie sich verbrannt. Maria
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