Die Brut hinter der Mauer
das tief.«
»Sei nur vorsichtig.«
»Klar«, sie zog sich zurück. Beide gingen bis zu einer Säule und blieben dort stehen. Johnny wußte den Grund selbst nicht, er brauchte Muße, um sich umzuschauen.
Linda war es, die den Körper entdeckte. Nach einem Aufschrei klammerte sie sich wieder an Johnny und zeigte dorthin, wo ein Teppich über eine Steintreppe lief.
»Da ist er!«
Johnny stand ebenfalls unbeweglich. Es brauchte ihm keiner eine Erklärung zu geben, auch er hatte gesehen und erkannt, wer dort auf dem Bauch lag. Der Mann war unverkennbar.
Malcolm, ihr Fahrer!
Linda hauchte: »Was machen wir denn jetzt? Ist er tot? Lebt er noch? Da… da müssen wir doch nachschauen.«
»Ja, das müssen wir«, dachte Johnny und hatte selbst schreckliche Angst. Obwohl sich zwischen den alten Mauern nichts weiter abspielte, kam es ihm vor, als wären sie von Feinden umgeben, die sich nur nicht zeigten.
»Sag doch was!«
Johnny schluckte. Er nickte sich selbst Mut zu. »Ich werde hingehen«, erklärte er.
»Und dann?«
»Weiß ich noch nicht. Jedenfalls sage ich dir Bescheid, was mit ihm ist. Warte.«
»Ja, klar.«
Johnny bewegte sich sehr vorsichtig weiter. Linda blieb zurück. Sie lehnte sich gegen die Säule, so konnte sie besser das Gewicht verlagern und den verletzten Fuß außer acht lassen.
Sie schaute auf den Rücken ihres Klassenkameraden und glaubte, die Gänsehaut sehen zu können. Johnny ging gebeugt. Wenn Linda ehrlich war, mußte sie zugeben, daß sie nicht in der Haut des Jungen stecken wollte.
Auch Johnny fühlte sich mehr als unwohl. Jeder Schritt auf das Ziel zu fiel ihm schwer. Er spürte die Belastung, denn er wußte genau, daß es jetzt auf ihn ankam. Machte er etwas falsch, konnte es für alle ungeahnte Folgen haben.
Natürlich konnte er Malcolm nicht aus den Augen lassen. Der Fahrer hatte seine Mütze verloren und lag in einer ungewöhnlich verrenkten Haltung inmitten der Steine, des Staubs und der aus alten Spinnweben geflochtenen Netze.
Johnny schlug einen kleinen Bogen und erschrak, als unter seinen Füßen etwas knirschte und er den Eindruck bekam, als würden Steine wegbrechen.
Er machte einen großen Schritt, schaute dabei über die Leiche hinweg und direkt in eine Nische hinein, an deren Rückwand der grüne Totenschädel flimmerte.
Als wäre er mit Energie gefüllt worden, die denen, die damals vielleicht hier gewohnt hatten, eine Existenz gegeben hatte. Waren sie noch da, oder schwebte nur ihr Geist durch diese halbzerstörte, schaurige Ruine, um Furcht zu verbreiten?
Johnny hielt neben Malcolm an. Sein Herz schlug oben im Hals, und die Stimmbänder schienen verknotet zu sein. Wenn ihn jemand etwas gefragt hätte, es wäre ihm nicht möglich gewesen, eine Antwort zu geben.
»Malcolm…?« Einen winzigen Funken Hoffnung besaß er noch, daß der Fahrer lebte. Er bewegte sich nicht.
Johnny nickte sich selbst zu. Vielleicht wollte er sich auch nur Mut machen. Malcolm lag auf dem Bauch. Um alles genau zu wissen, mußte der Junge den Körper herumdrehen.
Es widerstrebte ihm, nur gab es keine andere Möglichkeit. Er faßte den Leblosen an, wobei er mit einer Hand die runde Schulter umspannte. Die Linke legte er in den Rücken, setzte seine Kraft ein und merkte, wie steif der Körper war.
Nein, darin konnte kein Leben mehr stecken!
Trotzdem wollte er den endgültigen Beweis haben, so leicht gab er nicht auf, da kam er auf seinen Vater raus.
Johnny schaffte es auch, die Gestalt auf den Rücken zu drehen. Der Kopf rutschte ebenfalls mit — und Johnny fuhr mit einem Schrei auf den Lippen zurück.
Malcolm besaß kein Gesicht mehr. Was den Jungen da anstarrte, war eine aus Knochen, grauem Staub und Spinnweben bestehende Gesichtshälfte…
***
In einer Reflexbewegung hob der Junge die Arme an und preßte beide Hände vor sein Gesicht. Er spürte den Schweiß und den Staub. Beides drang in seine Augen und brannte.
Es war furchtbar, es war nicht zu fassen. Die schlimmsten Horror-Visionen waren durch diesen furchtbaren Anblick übertroffen worden. Er hatte sich schon damit abgefunden, einen Toten zu finden, aber keinen, der so furchtbar aussah.
Die Gänsehaut auf seinem Rücken wurde stärker. Was sollte er tun?
Nichts, er konnte überhaupt nichts tun. Er mußte sich nur damit abfinden, daß hinter der Mauer noch Leben vorhanden war, auch wenn er es selbst nicht wahrnehmen konnte.
Schweißperlen rannen über sein Gesicht. Den Kopf hatte er gedreht, er wollte den Anblick nicht
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