Die Brut
halben Meter von der offenen Tür zurück und begann, durch den Mund zu atmen.
»Soll ich dir helfen? Das duftet unglaublich«, sagte Sebastian vom Tisch.
»Bleib nur sitzen.«
Es war lächerlich. Sie bildete sich das bloß ein. Vom Schweinenetz konnte nichts mehr zu riechen sein. Rezeptgemäß war es im Ofen vollkommen verbrutzelt. Am linken Rand war vielleicht noch die Spur einer Fettader zu erkennen. Aber trotzdem. Sie schob die unverletzte Roulade vom Blech auf Sebastians Teller. Es gelang ihr immer noch nicht, durch die Nase zu atmen. Sie träufelte einen großen Löffel Barolojus über die Roulade, daneben setzte sie zwei Löffel Artischockenrisotto. Es sah aus wie auf dem Foto.
Sebastian lobte den Kaninchenbraten in Tönen, die er sonst für Goetherollen aufhob.
»Du solltest eine Kochsendung machen. Das ist so gut!«
Tessa schaute von Sebastian, der mit geschlossenen Augen genoss, auf den Teller vor ihr. Dort, wo das Fleisch aufgeplatzt war, quoll gelblich die Farce heraus, darunter war das dunkelgrüne Mangoldblatt zu sehen, dunkelrosa bis violett schauten die Streifen der Kaninchenleber hervor.
»Woher hast du gewußt, dass ich nichts mehr liebe als Kaninchen? Und dieses Artischockenrisotto dazu. Es ist einfach phantastisch.«
Erst jetzt merkte Sebastian, dass Tessa noch keinen Bissen angerührt hatte. Er unterbrach seine Lobrede. »Was ist?«
»Ich hab keinen Hunger. Irgendwie hab ich vorhin beim Kochen schon zu viel probiert.«
»Das kann nicht sein. Das ist das Beste, was ich seit langem gegessen habe.«
Tessa stand auf. Beinahe wäre sie gestolpert. Der Weg zum Gästeklo kam ihr weiter vor als sonst. Das Loft hatte sich in eine große Schiffschaukel verwandelt. Wohin war das Klo geflogen? Endlich. Die Tür. Das Klo. Tessa erbrach sich heftig.
Es konnte nicht sein. Niemand fing gleich zu kotzen an. Feli hatte ihr erzählt, dass sie die ersten zwei Monate gar nichts gespürt hatte. Es musste das Schweinenetz sein. Ein neuer Schwall kam aus ihr heraus.
Sie zuckte zusammen, als sie Sebastians Hand auf ihrem Rücken spürte. Er ging neben ihr in die Knie und streichelte ihren Hinterkopf.
»Tessa. Was ist denn?«
Blind fingerte sie nach dem Klopapier. Sebastian stand auf und holte ihr ein Taschentuch.
»Danke.« Sie schneuzte. Und schaffte es, ihn durch den Tränenschleier, der sich beim Würgen auf ihren Augen gebildet hatte, anzulächeln. »Ist schon okay. Wahrscheinlich sollte ich lieber doch nicht kochen.«
»Es kann nicht an deinem Essen liegen. Vielleicht hast du ein bisschen schnell getrunken?«
»In der Redaktion geht ein Magen-Darm-Virus um.«
Er schaute sie an. Es tat ihr weh, wie traurig, besorgt und schuldbewusst er aussah. Sie schloss die Augen.
Sag es ihm! Los! Sag es!
Er senkte den Kopf und legte seine Stirn ganz leicht an ihre. »Es tut mir so Leid, dass ich an das mit deiner Sendung nicht früher gedacht habe. Kannst du mir verzeihen? Es war dumm von mir.«
Ihre Augen tränten immer noch vom Würgen.
»Willst du nicht doch noch versuchen, wenigstens einen kleinen Happen zu essen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. »Komm. Dann trag ich dich wenigstens ins Bett. Und mach dir einen schönen Kamillentee.«
W
asser ohne Kohlensäure. Wasser mit Kohlensäure. Orangensaft. Kombucha.
Tessa starrte die kleinen Getränkeflaschen, die in einer ordentlichen Zweierreihe auf einem Silbertablett standen, an, als seien sie Figuren in einem geheimnisvollen Brettspiel. Sie nahm eine Flasche Orangensaft. Als sie den Saft öffnete, wurde ihr klar, dass sie keinen Durst hatte. Seit einer Weile schon verspürte sie den Drang, eine Zigarette zu rauchen. Sie ging zu dem einzigen Fenster, das es in dem schmalen Raum gab. Es war nicht zu öffnen. Tessa ließ den leichten Seidenvorhang fallen und ging zu ihrem Platz zurück. Die Ledersofas, die im rechten Winkel zu zwei Seiten des Couchtischs standen, waren weiß und makellos. Über jedem hing eine Graphik, in der die Betrachterin einen weiblichen Akt erkennen konnte, aber nicht musste. Es bestand kein Zweifel: Die Praxis von Doktor Tatjana Goridis war die beste der Stadt.
Theresia, ich habe dir heute einen Termin bei Doktor Prätsch gemacht. Feli soll auch gleich mitkommen. Ihr seid langsam in dem Alter, wo man an so was denken muss.
Eine Weile war es Tessa gelungen, den ersten Besuch beim Gynäkologen hinauszuzögern. Jedes Mal, wenn ihre Stiefmutter sie beim Frühstück daran erinnerte, dass sie heute nach
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