Die Brut
verheilte gut.
In ein paar Wochen spüren Sie nichts mehr davon
, hatte der Arzt gesagt, als er die Fäden gezogen hatte. Es würde keine große Narbe bleiben. Sechs, sieben Zentimeter, ein heller Streifen, der unter fast jedem Slip verschwand.
Victor lag auf dem Rücken. Sein Gesicht, dessen wahre Züge sich aus dem Babyspeck-Kokon erst noch herausarbeiten mussten, zuckte im Schlaf. Zu gern hätte Tessa gewusst, was in seinem Kopf vorging. Konnten Säuglinge schon träumen? Angeblich nahm er bereits Farben und Formen wahr, erinnerte sich an Gerüche, an Geräusche. Tessa zog die Decke zurecht. Es war ein schöner Stubenwagen, den sie mit Sebastian schon im Frühjahr bei einem Antiquitätenhändler gekauft hatte. Ein Restaurateur hatte den Wagen noch einmal vollständig überarbeitet, die Latexmatratze hatten sie in einem speziellen Laden anfertigen lassen. Ein weißer Stoffgiebel wölbte sich über dem Kopfende. Tessa konnte sich nicht mehr erinnern, worin sie als Säugling geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern sie gleich in ein größeres Bettchen gelegt, in das sie hineinwachsen konnte. Sie nahm den Stoffbär, den Attila Victor zur Geburt geschenkt hatte, in die Hand. Es war unglaublich, wie viele Geschenke Victor bekommen hatte. Stofftiere. Mützchen. Rasseln. Bauklötze. Drei Spieluhren, die allesamt
Maikäfer, flieg
spielten und die Tessa allesamt nicht mochte. Nur die gelbe Mondsichel, die sie mit Sebastian zusammen gekauft hatte, hing neben dem Stubenwagen. Gern hätte Tessa die Schnur am unteren Ende des Mondes gezogen, aber Elena hatte sie gewarnt, es mit der Spieluhr nicht zu übertreiben.
Immer nur, wenn du ihn ins Bettchen gelegt hast und er einschlafen soll. Dann beruhigt ihn die Spieluhr. Wenn sie mal so, mal so spielt, regt sie ihn auf.
Bestimmt hatte Attila den Bären nicht selbst gekauft, sondern die Sekretärin losgeschickt. Aber eigentlich war der Bär zu schön, als dass er die Wahl der Sekretärin hätte sein können. Er war aus einem weichen Frotteestoff, ein sanftes Braun, kleine Ohren, die Augen zwei schwarze Kreuzstiche, der Mund ein rotes Oval. Der Butzebär war das einzige Tier, das Victor nachts im Stubenwagen haben durfte. Die anderen Bären, Lämmer, Katzen mussten alle auf dem Wickeltisch bleiben.
Nichts mehr im Zimmer verriet, dass es einmal Sebastians Arbeitszimmer gewesen war. Keine Regale mehr. Keine Bücher. Keine Kartons mit unbekanntem Inhalt. Stattdessen Windeln. Cremes und Puder. Eine Waage. Hellblaue Tapeten mit Girlandenmuster.
Als Tessa in den Wohnbereich zurückkam, lief der Wetterbericht. Unwetterwarnung auch für ihre Region. Zum ersten Mal, seitdem sie aus der Klinik zurück war, hatte Tessa Lust, eine Zigarette auf der Dachterrasse zu rauchen. Sie griff nach der Fernbedienung, unentschlossen, ob sie es riskieren konnte, den Ton wieder anzustellen. Sebastian war am frühen Abend in die Stadt gefahren, um sich mit irgendeinem Filmmenschen zu treffen. Bis September würde er nicht arbeiten. Das hatten sie verabredet. Und auch danach würde er weniger arbeiten als vorher. Seine Repertoirevorstellungen am Theater spielen. Ein neuer Film stand frühestens im nächsten Sommer an. Erst neulich hatten sie darüber geredet. Wie unwichtig ihnen ihre Arbeit plötzlich erschien, seitdem Victor auf der Welt war.
Im Fernsehen lief Werbung. Drei braune Kühe schwenkten ihre prallen Euter über eine grüne Wiese mit Gänseblümchen. Die vorderste Kuh, die künstliche Wimpern und sehr feuchte Lippen hatte, verdrehte lasziv die Augen und sagte etwas in die Kamera, das Tessa nicht hören konnte. Eine Hand hielt ein großes Joghurtglas ins Bild.
Und plötzlich, als sei das Unwetter, vor dem der Wetterdienst eben noch gewarnt hatte, schon angekommen, fing Tessa an zu weinen.
Gott, ist der süß«, war das Erste, was Feli ausrief, als sie ihren Neffen sah. Sie hatte Tessa und Victor besuchen wollen, kaum dass sie aus der Klinik zurück waren. In den ersten Wochen war es Tessa gelungen, ihre Schwester abzuwimmeln: zu schwach, zu starke Wundschmerzen, die Infektionsgefahr für Victor zu groß, aber je weiter der Juli fortschritt, desto weniger Gründe waren ihr eingefallen, den Besuch hinauszuzögern.
»Diese Augen«, schwärmte Feli weiter. »Der Hammer. Die sind ja doppelt so groß, wie die von Curt damals waren.« Sie hob ihren eigenen Sohn hoch, damit er in den Stubenwagen schauen konnte. »Guck mal, das ist dein Cousin. Das ist Victor. Sag mal: Hallo
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