Die Buchmalerin
das Antlitz zu, auf das nun das Licht einer Fackel fiel. Es war blutig und von Wunden entstellt und wirkte merkwürdig verschoben. Zunächst glaubte Luitgard, dass sie nicht mehr im Stande sei, klar zu sehen. Doch dann begriff sie, dass Nase und Kiefer des Mannes gebrochen waren. Noch immer blickte er sie an, so als ob er sie kenne. Erst als sie den bittenden und beschämten Ausdruck in seinen Augen wahrnahm, erkannte sie, dass der Mann Alkuin war. Wieder stieß er ein Stöhnen aus, das auch ein unverständliches Gestammel sein konnte.
»Alkuin …«, unwillkürlich streckte sie die Hand nach ihm aus. Aber die Soldaten zogen sie fort.
*
Enzio betrat die kleine Kapelle des erzbischöflichen Palastes. Während er langsam das Schiff durchquerte, nahm er das Bild in sich auf, das sich ihm in der Apsis bot: die Bahre, auf der Gisberts Leichnam ruhte, bis zur Brust verhüllt mit einer nachtblauen, kostbaren Samtdecke. Der junge Priester, der auf der Steinstufe davor kniete und die Totenwache abhielt, und die schweren Wachskerzen, die zu beiden Seiten des Verstorbenen brannten. Ihr Schein wirkte im Tageslicht, das durch die Fensteröffnungen der Apsis fiel, beinahe bleich. Nun, dies ist das letzte Mal, dass ich dem toten Dominikaner meine Aufwartung mache, dachte Enzio belustigt.
Der Kardinal berührte den jungen Priester an der Schulter und raunte ihm zu, dass er die Kapelle für eine Weile verlassen könne. Er selbst werde die Totenwache übernehmen. Der Geistliche antwortete mit einem raschen, ernsten Nicken. Während er sich erhob und mit leichten Schritten aus der Kapelle eilte, ging Enzio zur Bahre und schaute auf Gisbert hinab. Noch immer hielten die weit aufgerissenen Augen und verzerrten Züge des ermordeten Inquisitors den Augenblick des Todes fest. Wie für ewig erstarrt im Schmerz und im Zorn. Obwohl der Leichnam nun schon seit einigen Wochen in der Kapelle aufgebahrt lag, verströmte er noch immer keinen Totengeruch. Die eisige Kälte hatte ihn gut konserviert.
Enzios Blick wanderte zum Unterleib des Toten, dessen zerfetzte Eingeweide durch die samtene Decke gnädig verhüllt wurden. Flüchtig erinnerte der Kardinal sich an Gisberts schrillen, sich überschlagenden Schrei: »Gott wird mich rächen. Mein Blut wird über Euch kommen!« Aber, dachte Enzio, dies wird gewiss nicht der Fall sein. Gott, sofern Ihn überhaupt die Geschicke der Menschen kümmerten, war auf seiner Seite. Nur noch der Gerichtsprozess – der, wie er bereits verkündet hatte, im Angesicht des Toten stattfinden sollte – hielt ihn in diesem Land. Anschließend, in wenigen Tagen schon, würde er zurück in den Süden reiten und dort, mit der Unterstützung des deutschen Königs und der Städte des norditalienischen Bundes, den Aufstand gegen den Kaiser und den Papst wagen. Nichts und niemand würde ihn daran hindern, den obersten Thron der Christenheit zu besteigen.
Noch einmal betrachtete der Kardinal versonnen Gisberts starren Leichnam. Eigentlich konnte sich der Inquisitor glücklich schätzen, dass sein toter Körper, ehe er ins Grab hinabgelassen wurde, noch einmal einem Ketzerprozess beiwohnen durfte. Jener Sache, der er sein Leben verschrieben hatte. Dass Unschuldige dabei verurteilt wurden – dies unterschied sich kaum von Gisberts Gerichtsverfahren. Nein, ging es Enzio durch den Kopf, der Inquisitor hätte sich wirklich keine passendere Totenfeier wünschen können.
*
In einem Gemach des erzbischöflichen Palastes kniete Bérard nieder und küsste den Ring des Kardinals. Enzio musterte den Dominikaner, einen sehnigen, mittelgroßen und breitschädeligen Mann. Bérard sah Gisbert im Grunde genommen nicht ähnlich – und doch glichen sich die Mönche auf verblüffende Weise. Das Antlitz beider Männer war durch Fasten und Askese ausgezehrt und besaß denselben fanatischen Ausdruck. Der Kardinal dankte dem Himmel, dass er Bérard nicht allzu lange ertragen musste, und winkte ihm, sich zu erheben.
»Ich bin Euch sehr dankbar, dass Ihr den weiten Weg auf Euch genommen habt und hierher gereist seid«, sagte er ernst. »Auch wenn Ihr dies gewiss als Eure Pflicht angesehen habt.«
»In der Tat. Wo es um ein derart furchtbares Verbrechen geht, verübt an einem Inquisitor, den Papst Gregor selbst beauftragt hat und der außerdem ein Mitglied meines Ordens war«, der Dominikaner neigte zustimmend den Kopf. »Nicht auszudenken, wenn es den Ketzern gelungen wäre, mit ihrem grässlichen Tun unentdeckt zu bleiben. Aber Gott hat
Weitere Kostenlose Bücher