Die Buchmalerin
Zeit wurde sie ein wenig ruhiger. Um sich abzulenken, bearbeitete sie Pergamentstücke. Dann und wann, wenn sie mit dem Bimsstein über die Stücke aus Kalbhaut rieb, um sie zu glätten, und das Material unter ihren Fingern fühlte – rauer dort, wo das Fell des Tieres gewachsen war und ebenmäßiger auf der Innenseite –, vergaß sie für Momente den Prozess und ihre Angst.
Manchmal ließ die Äbtissin sie zu sich rufen, um ihr einen Brief zu diktieren, wobei sie sich schroff und kurz angebunden wie immer verhielt. Sie mäkelte über Donata, wenn diese – ihrer Ansicht nach – den Griffel zu langsam über die Wachstafel führte oder ein Wort vergaß und deshalb nachfragen musste. Auch mit den später auf Pergament ausgeführten Briefen war die alte Frau selten zufrieden.
Eines Abends, zwei Tage bevor der Inquisitionsprozess begann, nahm Donata einen brennenden Kienspan in die Hand und schritt durch die stillen, dunklen Gänge des Klosters.
Als sie das Skriptorium erreicht hatte, zündete sie eine Kerze an, die dort auf einem Halter stand, und löschte den Span. Langsam ging Donata durch den Raum, wie sie es schon einmal getan hatte, vorbei an den Pulten, die vor den verglasten Fensteröffnungen standen. Nur beschriebene Seiten lagen drauf. Keine zeigte eine Malerei. Donata war traurig darüber, zugleich aber auch beinahe erleichtert. Denn obwohl sie sich gewünscht hatte, noch einmal eine Buchmalerei zu sehen, hätte es ihr auch wehgetan.
Vor dem Regal, das die Farben enthielt, blieb sie stehen. Sie holte die Steine aus den Ledersäckchen und berührte die unterschiedlichen Farbstoffe, als wollte sie ihre Essenz in sich aufnehmen. Sie nahm den Lapislazuli in die Hand und hielt ihn in den Schein der Kerzenflamme. Das Licht ließ den unscheinbaren, matten Stein in einem blauen Feuer erglühen. Das Blau eines südlichen Himmels … Und das tiefe, unendliche Blau, das sie in jener Nacht, als sie bei Roger gelegen hatte, umgeben und gleichzeitig ganz ausgefüllt hatte.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür des Skriptoriums. Die Äbtissin kam herein. Die alte Frau musterte die brennende Kerze. »Ich muss dir wohl nicht sagen, dass du Licht verschwendest«, bemerkte sie.
»Nein, das müsst Ihr nicht.«
Der Blick der Äbtissin wanderte von dem Tisch, auf dem die Farbmittel ausgebreitet waren, zu Donata. Ein rasches Lächeln zog über ihr faltiges Gesicht.
»Falls wir beide, du und ich, diesen Prozess heil überstehen sollten, werde ich dir vorschlagen, hier im Skriptorium als Buchmalerin zu arbeiten. Womit ich dir jedoch weder anbieten will, in mein Kloster einzutreten, noch bereit wäre, dich unter den Schwestern aufzunehmen …«
Donata schaute durch den Raum, über die Schreibpulte an der Längsseite und den großen Tisch am Ende, auf dem die bereits zurechtgeschnittenen Pergamentseiten lagen. Sehnsüchtig betrachtete sie noch einmal die unterschiedlichen Steine, Kräuter und Erden – die Grundlagen der Farben. Sie wollte erwidern, dass sie nicht wisse, ob ihre Hand ihr überhaupt noch gehorche. Denn seit jenem Morgen in der Höhle hatte Donata keinen Versuch mehr mit dem Silberstift gewagt. Vielleicht würde sie wieder wirre Linien auf den Untergrund zeichnen. Doch stattdessen antwortete sie leise: »Ich würde gerne Gesichter malen, so wie sie wirklich sind …«
»Du meinst, Gesichter von Menschen, mit ihren unterschiedlichen Merkmalen? So wie die Statuen aus der Zeit der Römer sie besaßen?«, die Äbtissin wiegte nachdenklich den Kopf. »Nun, falls es möglich ist, dass wir das Inquisitionsgericht überleben, warum solltest du dies dann nicht tun?«
*
Ihr Mann Conrad war von seiner Reise noch immer nicht zurückgekehrt. Deshalb leitete Ida Sterzin den Leichenschmaus, der nach Jörgs Beerdigung stattfand. Sehr aufrecht saß sie am oberen Ende der langen Tafel und achtete darauf, dass die Gäste gut bewirtet wurden. Als das Mahl zu Ende war, teilte sie ihren Töchtern und dem Gesinde die Arbeiten zu, die sie verrichten sollten. Anschließend sah sie in der Deckenweberei ihres Mannes nach dem Rechten, überprüfte den Gewürz- und Salzvorrat in der Küche und suchte die Kammer auf, in der das Rechnungsbuch des Hauses verwahrt wurde. Sie schlug das ledergebundene Buch nicht auf, denn sie wusste, dass Conrad es in gutem Zustand vorfinden würde. Einen Augenblick lang ließ sie ihre Hand geistesabwesend darauf ruhen, ehe sie die Kammer verließ. Sie zog ihren Mantel an und ging aus dem Haus, ohne
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