Die Bucht des grünen Mondes
Brei würde hier trocknen, bis man aus der bröckeligen Masse Mehl herstellen konnte. Die Frauen, unter ihnen Tiacca, riefen ständig den Schrumpfkopfherstellerinnen Bemerkungen zu. Es hörte sich an, als würden sie liebend gern die Plätze tauschen.
In den letzten Wochen hatte Amely viel gelernt über die Sitten und Gebräuche der Indianer. Sie hatte geglaubt, sich leidlich an das fremde Leben im Urwald gewöhnt zu haben, doch was die Frauen hier so selbstverständlich taten, war für sie das Schaurigste, was sie je gesehen hatte. Aber würden die Yayasacu nicht ähnlich empfinden, sähen sie, wie eine Peitsche auf den narbigen Rücken eines unschuldig Versklavten niederging? Bei dem Gedanken, diese stolzen Männer und fröhlichen Frauen müssten in die Knie gehen, ihre Würde verlieren und vielleicht ihr Leben, ballte sich eine Faust aus Schmerz in Amelys Brust.
Und wüssten sie, was außerhalb ihrer Welt geschieht, würden sie mich dorthin zurückjagen, und ich wäre es, die zu Recht ihre Würde verloren hätte
.
Aber sie wussten nichts. Oft saß Amely so wie jetzt mit den Frauen zusammen. Half ihnen bei ihrer Arbeit, so gut sie es eben vermochte, und lauschte ihren Erzählungen. Anfangs hatte sie nur Bruchstücke verstanden. Aber sie war stolz gewesen auf jedes neue Wort, das sie lernte. Und langsam hatten die Worte begonnen, sich zu Sätzen zusammenzusetzen.
Die Frauen hatten ihr auch beigebracht, zu töpfern – mehr schlecht als recht – und zu spinnen. Ein Spinnrad gab es hier natürlich nicht. Man sammelte Baumrinden und schlug mit Holzknüppeln darauf ein, bis sich die innen liegenden Fasern lösten. Die drehte man mit den Fingern zu Fäden und Schnüren. Amely hatte daraus Angelschnüre geflochten und Girlanden, an denen sie Schneckenhäuser befestigte. Sie hatte Hängematten aus Palmstroh und Fächer aus Blättern angefertigt, mit denen die Feuer angefacht und die Mückenplage in Schach gehalten wurde. Und sie hatte gelernt, so wie die anderen Frauen dabei stundenlang auf den Fersen zu sitzen.
Die Männer dagegen verbrachten ihre Zeit damit, Schalen, Waffen und Werkzeuge zu schnitzen; sie machten aus kleinen Stämmen und Ästen die niedrigen Zäune, mit denen nachts die Hütten versperrt wurden. Sie fertigten Fallen, Reusen und Pfeilspitzen. Dazu schlugen sie zerbrochene und rostige Eisenklingen flach, schnitten sie mühselig zurecht und härteten sie im Feuer. Mythen rankten sich um die bei anderen Stämmen eingehandelten Relikte der
Anderen
. So hieß es, die Männer, die der Boto für Yacurona raubte, hätten die Eisenklingen mitgebracht. Oder die Kolibris hätten sie aus dem Maul des Alligators Iwrame geraubt, mitsamt dem Feuer, das dieser hütete. Ein Jäger hatte Iwrame, der aufrecht gehen und sprechen konnte, in ein Gespräch verwickelt und zum Lachen gebracht. Da ließ seine Frau die Kolibris frei … Die Yayasacu erzählten auch von den Seelen der Maniokpflanzen, die nachts aus ihren Blütenständen austraten und benachbarte Bäume fällten oder störendes Unkraut jäteten, um sich zu schützen. Oder von einem Wesen des Waldes mit verkehrten Füßen, damit niemand ihnen folgen konnte. Begegnete man ihm dennoch – einige Jäger behaupteten inbrünstig, ihn gesehen zu haben –, so trat er gegen Bäume und brüllte, damit jeder wusste, dass er der Chullachaqui, der Herr des Waldes, war. Und fällte man ohne Notwendigkeit einen Baum, so überschüttete der Chullachaqui den Übeltäter mit unheilbaren Krankheiten. Amely hatte gelernt, dass der Amazonas eine Tochter Tupans war und der Vollmond seine Wiedergeburt. Starb jemand bei Vollmond, so galt er als Gott, und dessen Söhne wurden zu Häuptlingen ernannt. Sie erfuhr, dass eine Liane menschenscheu war, sodass sie jene Bäume, in denen verstorbene Seelen wohnten, erstickte. Und dass die Geister von Tieren und Pflanzen tags friedlich waren, nachts aber voller Schrecknisse.
Ruben wurde nicht müde, ihr all diese Dinge zu erklären und beizubringen. Geduldig ertrug er auch ihre immer wiederkehrende Ängstlichkeit, wenn er sie mit sich in die Tiefe des Waldes nahm. Amely dachte, dass es interessant sein müsse, einem Gespräch zwischen ihm und Herrn Oliveira zu lauschen. Vielleicht waren die beiden früher gemeinsam durch den Park gelaufen, und der unermüdliche Herr Oliveira hatte ihm erklärt, wie man die allgegenwärtigen Affen unterschied. Aber ob der stets ein wenig linkische und überaus korrekte Brasilianer wusste, dass man einen
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