Die Bucht des grünen Mondes
Leiter auf den Steg, nah bei der Treppe zum Park der Villa. Sie zwang sich, nicht mehr an jene verhängnisvolle Begegnung mit Ruben zu denken, und stieg die Stufen hinauf.
Ein Gärtner hob flüchtig den Kopf und fuhr fort, wucherndes Unkraut zu beseitigen. Amely schielte zu den Gräbern, ob sich ein viertes – ihres – aufgetan hatte. Doch Felipe lief zu schnell; sie konnte nichts erkennen.
Natürlich bin ich tot
, dachte sie beklommen, als ein anderer Arbeiter ihrer Aufmachung wegen stutzte, sie aber nicht erkannte. Herr Oliveira stand auf der Freitreppe und studierte ein Notizbuch. Ihr stockte der Schritt. Er würde durch sie hindurchblicken, sie leugnen, wie er die Söhne geleugnet hatte. Maria ebenso. Alle.
«Was haben Sie?» Felipe blieb stehen. «Es ist sicherlich ungewohnt nach so langer Zeit …»
«Lange Zeit, wieso …», stotterte sie. «Welchen Tag haben wir denn?»
Die Frage hatte sie bislang nicht interessiert. Das Leben bei den Yayasacu war zeitlos gewesen; das Vergangene und das Zukünftige galten als Geisterwelten. Erst jetzt, beim Anblick der Zivilisation, wusste sie, dass Zeit wieder eine Bedeutung haben würde.
«Den 3. Februar.»
«Erst Februar? Mir war so, als wäre ich länger unterwegs gewesen.»
«1898.»
«Oh.» Himmel! Sie war über ein Jahr fortgewesen! Ihr schwindelte. Felipe fasste unter ihre Achsel und machte Anstalten, sie auf seine Arme zu heben. Das fehlte noch! Sie rannte zurück zum Igarapé. Er rief nach ihr. Kam hinter ihr her. An der Treppe kehrte die Vernunft zurück; sie machte kehrt und lief an ihm vorbei zum Haus. Mittlerweile hatte das seltsame Schauspiel die Gärtner und Bediensteten aufmerken lassen. Immer mehr kamen aus dem Haus und reckten die Hälse. Von der Treppe kam ein Schrei: War es Bärbel, die sich da auf den Hintern setzte, die Hand auf dem Herzen? Herr Oliveira hatte sein Büchlein sinken lassen, die Miene eine einzige Verwirrung. Es war die Schwarze Maria, die die Röcke raffte und die Stufen herunterstapfte. Amely fand sich in ihrer heftigen Umarmung wieder.
«Dona Amely lebt!» Nasse Lippen drückten sich auf Stirn und Wangen. «Dünn, ach, dünn geworden!» Sie schob Amely die Treppe hinauf, wo Herr Oliveira umständlich sein Buch in der Tasche des Jacketts verstaute. Ihm traute sie am ehesten zu, so zu tun, als sei sie bloß von einem ausgedehnten Ausflug zurückgekehrt, und tatsächlich lächelte er gefasst.
«Wie schön, Sie wieder zu sehen, Senhora Wittstock.» Er machte einen Diener und streckte die Hand vor, die sie erfreut ergriff. «Wir haben uns alle große Sorgen gemacht, aber nie die Hoffnung aufgegeben.»
Seine feuchten Augenwinkel waren das deutlichste Zeichen seiner Ergriffenheit. Und dass er ihre Hand lange nicht losließ.
«Geht es meinem Mann gut?» Oft hatte sie sich diese Frage während der Fahrt gestellt. Und sich ausgemalt, dass man sagen würde, er sei tot. Sie senkte den Kopf, da sie fürchtete, man könne ihr diesen hässlichen Wunsch vom Gesicht ablesen. Da kam Doktor Barbosa aus dem Haus gestürmt, die Arzttasche unter dem Arm.
«Es ist nur das Übliche», warf er Herrn Oliveira entnervt hin.
«Malaria?», entfuhr es Amely.
Fragend wanderte sein Blick an ihrer Aufmachung hinab, während er sich den Backenbart kratzte. Er erkannte sie nicht, und so stiefelte er ohne eine Antwort die Treppe hinunter.
«Nein, zu viel Gin», antwortete Herr Oliveira an seiner Statt. Einladend wies er zur Tür. «Machen Sie sich darüber keine allzu großen Gedanken. Es wird ihm guttun, zu sehen, dass Sie wohlauf und zurück sind.»
«Das … nun, das hoffe ich.» Sie zwang sich ein Lächeln ab. «Aber ich sollte wohl erst ein Bad nehmen und etwas Ordentlicheres anziehen, nicht wahr?»
Die versammelte Dienerschaft lachte befreit; einige klatschten sogar. Maria verkündete, etwas Stärkendes kochen zu wollen, und zwei Mädchen eilten davon, das Bad zu bereiten. Amely sah im schummrigen Zwielicht des Salons, dass Kilian in einem goldseidenen Hausmantel auf dem Kanapee lag und lauthals schnarchte. Die Brise der sirrenden Ventilatoren ließ goldene Haarsträhnen tanzen. Sie konnte es kaum erwarten, an ihm vorbei in ihr sicheres Zimmer zu gelangen.
«Ich bin sehr gespannt auf Ihre Geschichte, Senhora Wittstock», sagte Herr Oliveira. «Niemand wusste ja, wo Sie waren, aber es gab Gerüchte, wonach man Sie mit einem Indio in einem Boot gesehen zu haben glaubte. Es fanden sich auch Leute, die behaupteten, Sie seien im Nachthemd
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