Die Bucht des grünen Mondes
Zügen des Mädchens stand die gleiche Furcht. Es mochte zehn, elf Jahre alt sein, mit noch kleinen Brüsten, blau angelaufen unter den Griffen der Fremden. Wie so viele Frauen hatte auch sie die Jenipapo-Frucht genutzt, der Schwärze ihres Haares eine blau schimmernde Tiefe zu verleihen. Vielleicht war sie bereits einem Mann versprochen, hatte sich darin geübt, sich für ihn hübsch zu machen. Und vielleicht hatte sie zugesehen, wie er unter der Gewalt der
Anderen
gestorben war. Ein Greis hockte bei ihr auf einer Hängematte und hielt sie umschlungen. Unentwegt brabbelte er vor sich hin, während er sie und sich vor- und zurückschwang.
Sie haben unseren Stamm ausgelöscht
, glaubte Aymáho aus dem andersartigen Dialekt herauszuhören. Aber diese beiden gehörten nicht zum Schädelvolk; vermutlich eher zu den Wayapi. Oder den Cocoma.
Bäuchlings lag Aymáho auf einem Ast, eine halbe Armlänge unter sich eine Hütte mit lückenhaftem Blätterdach. Es bereitete ihm keine Mühe, die Blätter lautlos noch ein Stück auseinanderzuschieben, um das karge Innere überblicken zu können. Diese Hütte war nicht von seinem Volk erbaut – nur jemand, der vom Wald nichts verstand, würde belaubte Äste des Kapokbaums nutzen, in denen sich das Ungeziefer festsetzte. Die Ambue’y, die
Anderen
, hausten hier.
Außer mehreren Hängematten, auf denen vier Männer schnarchten, gab es hier nur einen halb verrotteten Tisch, dessen Beine in Eimern standen. Zwei weitere Ambue’y hatten ihre Waffenstöcke darauf abgelegt und sich darangemacht, sie hingebungsvoll zu putzen. Das Mädchen und den Alten würdigten sie keines Blickes. Jener, der sich soeben an dem ausgemergelten Körper des Mädchens vergangen hatte, schnupperte angewidert an seinen Fingern, gähnte und wischte mit seinem Tuch, das sie nurmehr dreckiger machte, darüber.
Aymáho hatte sich für den Schädel dieses Mannes entschieden; er erschien ihm als der größte und gefährlichste. Die fremdartigen Waffen machten ihm Sorgen. Nun, er würde es darauf ankommen lassen.
Er hatte sich den Geist der Vogelspinne einverleibt. Schnell, leise und gefährlich würde er sein. Wie der Panther. Behutsam tastete er nach seinem Bogen und dem Köcher. Er legte einen Pfeil an und schob die Spitze durch das Blätterdach.
Tatsächlich merkte einer der Männer auf. Der Ambue’y hob sein schweißfeuchtes, überaus helles Gesicht. Ein struppiger Bart wuchs ihm unter dem Kinn. Er wirkte erschöpft, seine Gestalt viel zu wohlgenährt für den Dschungel. Unmittelbar fiel sein Blick durch die Lücke. Aymáho wollte den Pfeil fliegen lassen. Doch dann gähnte der Kerl wieder nur und ließ grunzend den Kopf hängen. Aymáho lächelte. Die Jenipapofrucht machte ihn unsichtbar.
Halb richtete er sich auf dem Ast auf und spannte den Bogen; die Pfeilspitze glitt wieder ein Stück in die Nacht zurück, wie der Kopf der Schlange vor dem Zubeißen.
Ein Gedanke hielt ihn zurück. Er versuchte ihn zu fassen. Angst? Nein. Was war es? Plötzlich fühlte er sich matt. Ausgerechnet jetzt schien er die Tage des Herumwanderns in den Knochen zu spüren. Er musste daran denken, dass er derzeit nur ein verbannter Geist war. Die Narben der Piranhas begannen zu pochen, als wollten sie ihn gemahnen, dass sein Körper schwächer als sonst war. Der Kazike kam ihm in den Sinn. Als wollte er ihm etwas zurufen. Entschlossen schüttelte er den Kopf und spannte den Bogen erneut.
Sie haben unseren Stamm ausgelöscht.
Das war es. Daran wollten ihn die Geist-Rufe erinnern: an die Worte des Alten.
Er steckte den Pfeil in den Köcher zurück.
Sie haben unseren Stamm ausgelöscht …
Diese Fremden, so harmlos sie aussahen, als könnten sie keinen Tag im Wald überstehen, besaßen die Macht, Stämme zu vernichten. Die Schädelleute. Den Stamm, dem die beiden Gefangenen angehört hatten. Vielleicht noch mehr. Viel mehr … Wie Götter sahen sie wahrhaftig nicht aus. Aber ihre Stärke war unbestreitbar.
Gelänge es ihm, diese sechs Männer zu töten, würde er nie erfahren, was die Ambue’y noch alles zu tun gedachten. Welche Stämme sie als Nächstes auslöschen wollten.
Und wann der meine an der Reihe sein wird
, dachte er.
Er verbarg den Bogen im Geäst. Auch das Blasrohr verstaute er dort, ohne zu wissen, ob er die Waffen je wieder an sich nehmen konnte. Ob der Kazike geahnt hatte, wie groß die Herausforderung tatsächlich war? Sie war eines Mannes würdig, der den Tod nicht fürchtete. O nein, nicht den Tod,
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