Die Bücher und das Paradies
Sollte ich einen modernen Erzäh-
ler sprechen lassen, dessen Stil die Spontaneität Baudo-
linos beeinträchtigt hätte? Hier kam mir eine weitere fixe
Idee zu Hilfe, die mir seit geraumer Zeit im Kopf
herumspukte, ohne daß ich jemals gedacht hätte, sie bei
dieser Gelegenheit verwenden zu können: eine Geschichte
zu erzählen, die in Byzanz spielt. Warum? Weil ich sehr
wenig von der byzantinischen Kultur wußte und noch nie
in Konstantinopel gewesen war. Vielen mag das als ein
sehr schwacher Grund erscheinen, um etwas erzählen zu
wollen, was in Konstantinopel spielt, zumal Konstanti-
nopel mit Friedrich Barbarossa nur sehr am Rande zu tun
hatte. Aber manchmal entscheidet man sich für eine
Geschichte nur, um sie besser kennenzulernen.
Gesagt, getan. Ich fuhr nach Konstantinopel, las viel
über das alte Byzanz, machte mich vertraut mit seiner
Topographie und stieß auf Niketas Choniates mit seiner
»chronologischen Erzählung« ( Diēgēsis chronikē ) der
Bompiani 1992 [dt. Wie man mit einem Lachs verreist , Hanser 1993, S. 173 – 187].
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byzantinischen Geschichte.11 Ich hatte den Schlüssel
gefunden, die Art und Weise, wie ich die »Stimmen«
meiner Erzählung artikulieren konnte: Ein gleichsam
gestaltloser Erzähler gibt das Gespräch zwischen Niketas
und Baudolino wieder, läßt die gelehrten und höfischen
Reflexionen des Byzantiners mit den pikaresken Erzäh-
lungen Baudolinos alternieren, so daß weder Niketas noch
gar der Leser jemals begreifen kann, ob und wann
Baudolino lügt, und das einzig Gesicherte ist, daß er
behauptet, ein Lügner zu sein (Paradox des Lügners und
des Kreters Epimenides).
Damit hatte ich das Spiel der »Stimmen«, aber noch
nicht die Stimme von Baudolino. Und hier widerlegte ich
das zweite meiner Prinzipien. Einige Zeit vorher, während
ich noch die Chroniken der Eroberung Konstantinopels
durch die Kreuzfahrer las (und beschloß, diese Geschichte
zu erzählen, die schon in den Texten von Villehardouin,
Robert de Clary und Niketas so romanhaft klingt), hatte
ich nebenbei, als Zeitvertreib auf dem Land, jene erste
Schreibübung Baudolinos in einem hypothetischen Pidgin-
Piemontesisch des 12. Jahrhunderts verfaßt, die jetzt den
Roman eröffnet. Zwar habe ich diese Seiten in den
folgenden Jahren immer wieder umgeschrieben, nach
Konsultation historischer und Dialektwörterbücher und
aller erreichbaren Dokumente, aber schon bei jener ersten
Fassung war mir durch den Sprachstil klargeworden, wie
ich Baudolino denken und reden lassen mußte. So ist
letztlich Baudolinos Sprache nicht durch den Bau einer
Welt entstanden, sondern der Reiz dieser Sprache hat zum
Bau einer Welt geführt.
11 Dt. Nicetas Acominatus , übers., eingeleitet u. erklärt von Franz Grabler (Byzantinische Geschichtsschreiber Bd. 7 – 9), Graz, Styria, 1958 (A. d. Ü.).
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Ich weiß nicht, wie ich diese Umkehrung theoretisch
erklären soll. Mir bliebe nichts anderes übrig, als Walt
Whitman zu zitieren: »Ich widerspreche mir? Wohlan, ich
widerspreche mir.« Wäre da nicht der Umstand, daß mich
– vermutlich – der Rückgriff auf dialektale Sprachmuster
in meine Kindheit und meine Geburtsstadt zurückgeführt
hat, also in eine bereits präkonstituierte Welt, zumindest in
der Erinnerung.
Zwänge und Zeitstruktur
Allerdings, ob nun Welt zur Sprache oder Sprache zur
Welt führt, man verbringt nicht zwei bis drei Jahre damit,
eine Welt zu errichten, als existierte diese Welt nur für
sich, unabhängig von der Geschichte, die man in ihr
geschehen lassen will. Diese »kosmogonische« Phase geht
eng einher (in einem Maße, das ich beim besten Willen
nicht auf eine Formel oder ein Programm zurückführen
könnte) mit einer Hypothese über die Grundstruktur des
Romans sowie der Welt, die man errichtet. Und diese
Struktur besteht im wesentlichen aus Zwängen und
Zeitvorgaben.
Zwänge sind von grundlegender Bedeutung für jede
künstlerische Operation. Einen Zwang wählt der Maler,
der beschließt, lieber Öl- als Temperafarben zu nehmen
und lieber auf Leinwand als auf frischen Putz zu malen;
der Musiker, der sich für eine Grundtonart entscheidet
(danach kann er modulieren und modulieren, aber am
Ende muß er zu ihr zurück); der Dichter, der sich den
Käfig des Endreims oder eines Versmaßes baut. Und man
glaube nicht, daß der avantgardistische Maler, Musiker
oder Dichter – der gerade diese Zwänge zu vermeiden
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scheint – sich
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