Die Bücher und das Paradies
Stalin einmal gefragt, wie viele
Divisionen der Papst besitze. Was in den Jahrzehnten
seither geschehen ist, hat uns bewiesen, daß Divisionen
unter bestimmten Umständen sicher wichtig sind, aber
nicht alles. Es gibt immaterielle Mächte, die sich nicht
nach Gewicht messen lassen, aber sehr wohl ins Gewicht
fallen.
Wir sind umgeben von immateriellen Mächten, die sich
nicht auf jene beschränken, die wir die geistigen Werte
nennen, wie zum Beispiel religiöse Doktrinen. Eine
immaterielle Macht ist auch die der Quadratwurzeln, deren
strenges Gesetz die Jahrhunderte und nicht nur die Dekrete
Stalins, sondern selbst die des Papstes überlebt hat. Und
zu diesen Mächten würde ich auch die der literarischen
Überlieferung rechnen, soll heißen: die der Gesamtheit
von Texten, welche die Menschheit nicht zu praktischen
Zwecken (wie um Register zu führen, Gesetze und
wissenschaftliche Formeln zu kommentieren, Sitzungen zu
protokollieren oder Fahrpläne aufzustellen), sondern
gratia sui , um ihrer selbst willen hervorgebracht hat und weiter hervorbringt – und die man zum Vergnügen, zur
geistigen Erhebung, zur Erweiterung der Kenntnisse oder
auch bloß zum Zeitvertreib liest, ohne daß einen
1 Vortrag auf einem Schriftstellerfestival in Mantua, September 2000. Dann abgedruckt in der Zeitschrift Studi di estetica Nr. 23, 2001.
7
irgendwer dazu zwingt (wenn man einmal von den
schulischen Zwängen absieht).
Es stimmt zwar, daß die literarischen Objekte nur zur
Hälfte immateriell sind, da sie sich in Vehikeln ver-
körpern, die gewöhnlich aus Papier bestehen. Aber einst
verkörperten sie sich in der Stimme dessen, der eine
mündliche Überlieferung weitergab, oder in Stein ge-
meißelt, und heute diskutieren wir über die Zukunft der
e-books , die uns erlauben sollen, sowohl eine Sammlung von Witzen wie auch die Göttliche Komödie auf einem
Bildschirm aus Flüssigkristallen zu lesen. Ich will gleich
klarstellen, daß ich hier nicht die Absicht habe, mich mit
der vexata quaestio des elektronischen Buches zu
beschäftigen. Ich gehöre naturgemäß zu denen, die es
vorziehen, einen Roman oder ein Gedicht in einem Band
aus papierenen Seiten zu lesen, von denen ich sogar noch
die Eselsohren und die zerknitterten Stellen in Erinnerung
behalte, aber wie ich höre, gibt es eine digitale Generation
von Hackern, die in ihrem Leben noch nie ein Buch
gelesen haben und nun durch das e-book zum ersten Mal in die Nähe und den Genuß des Don Quijote gekommen
sind. Soviel Gewinn für ihren Geist, soviel Verlust für ihre
Augen. Wenn es den künftigen Generationen gelingt, ein
gutes Verhältnis (psychisch und physisch) zum e-book zu entwickeln, wird sich an der Macht des Don Quijote nichts ändern.
Wozu dient das immaterielle Gut, das die Literatur
darstellt? Es würde genügen zu antworten, wie ich es
schon getan habe, daß sie ein Gut ist, welches um seiner
selbst willen konsumiert wird und daher zu nichts dienen
muß. Aber eine so körperlose und abgehobene Sicht des
literarischen Vergnügens liefe Gefahr, die Literatur auf
etwas wie Jogging oder das Lösen von Kreuzworträtseln
zu reduzieren – Tätigkeiten, die überdies beide zu etwas
8
dienen, die eine zur Leibesertüchtigung und die andere zur
Erweiterung des Wortschatzes. Was ich hier behandeln
möchte, ist daher eine Reihe von Funktionen, welche die
Literatur für unser individuelles Leben und für das der
Gesellschaft erfüllt.
Zunächst einmal hält Literatur die Sprache als
kollektives Erbe lebendig. Die Sprache geht per definitionem , wohin sie will, kein Dekret von oben, weder von selten der Politik noch einer Akademie, kann ihren Gang
aufhalten und sie zu Positionen umleiten, die man für
besser hält. Der Faschismus hat sich bemüht, uns mescita
statt bar sagen zu lassen, coda di gallo statt cocktail , rete statt goal und auto pubblica statt taxi , aber die Sprache ist ihm nicht gefolgt. Dann hat er eine lexikalische
Monstrosität vorgeschlagen, einen inakzeptablen Archais-
mus wie autista anstelle von chauffeur , und die Sprache hat ihn akzeptiert. Vielleicht weil sie damit einen im
Italienischen fremden Laut vermeiden konnte. Sie hat das
Wort taxi behalten, aber sie hat es allmählich, zumindest in der gesprochenen Sprache, zu tassi werden lassen.
Die Sprache geht, wohin sie will, aber sie ist
empfänglich für die Anregungen der Literatur. Ohne
Dante hätte sich kein gemeinsames Italienisch
Weitere Kostenlose Bücher