Die Bücher und das Paradies
nicht andere Zwänge errichtet. Er tut es, nur
ist nicht gesagt, daß wir es bemerken sollen.
Es kann ein Zwang sein, als Schema für die Abfolge der
Ereignisse das der sieben Posaunen der Apokalypse zu
nehmen. Aber auch, die Geschichte auf ein bestimmtes
Datum zu legen, denn manches kann man da geschehen
lassen und anderes nicht. Es kann ein Zwang sein zu
beschließen, daß im Foucaultschen Pendel , um den
magischen Leidenschaften der Personen entgegen-
zukommen, die Zahl der Kapitel 120 sein muß, keins mehr
und keins weniger, und die der Hauptteile zehn, wie die
zehn Sefiroth der Kabbala.
Die Zwänge bestimmen auch mehr und mehr eine
Zeitstruktur. Im Namen der Rose konnte, wenn man sich an die Abfolge in der Apokalypse halten mußte, die Zeit
des Plots (abzüglich langer Einschübe) mit der Zeit der
Fabel zusammenfallen: Die Geschichte beginnt mit der
Ankunft von William und Adson in der Abtei und endet
mit ihrer Abreise. Leicht (auch zu lesen).
Beim Foucaultschen Pendel zwang mich gerade die
Schwingbewegung des titelgebenden Apparats zu einer
anderen Zeitstruktur. Casaubon kommt eines Abends ins
Conservatoire, versteckt sich dort und ruft sich die
vergangenen Geschehnisse in Erinnerung, dann kehrt die
Geschichte zum Anfang zurück und so weiter. Hatte ich
mir für den Namen der Rose eine Art Stundenplan oder
Kalender angelegt, um Tag für Tag festzulegen, was alles
im Laufe einer Woche geschehen sollte, so war es beim
Foucaultschen Pendel eine Art Höhenmesser, der die
Rückgriffe in die Vergangenheit und die Vorgriffe in die
Zukunft registrierte. Wie ein graduierter Meßstab oder
rechtwinklige Koordinatenachsen. Der Protagonist
befindet sich jetzt hier, aber er ruft sich in Erinnerung, was in einem bestimmten Moment der Vergangenheit geschah.
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Das Schöne an solchen Schemata ist, daß sie zwar ehern
aussehen, wenn man jedes für sich betrachtet, aber ich
habe Schubladen voller Schemata, die ich im gleichen
Maße, wie der Roman vorankam, immer neu gezeichnet
hatte. Mit anderen Worten, das Schöne an der Sache ist:
Einerseits muß man sich Zwänge schaffen, andererseits
muß man sich frei fühlen, sie im Laufe der Arbeit zu
ändern. Allerdings muß man dann alles ändern und wieder von vorn beginnen.
Einer der Zwänge im Foucaultschen Pendel war, daß die
Protagonisten das Jahr 1968 erlebt haben sollten, aber da
Belbo dann seine files am Computer schreibt (der in der ganzen Geschichte auch eine formale Rolle spielt, indem
er ihre aleatorische und kombinatorische Natur inspiriert),
durften die letzten Ereignisse erst zwischen 1983 und 1984
stattfinden, nicht vorher. Der Grund ist sehr einfach: Die
ersten Personalcomputer mit Schreibprogramm sind in
Italien 1983 (frühestens 1982) auf den Markt gekommen.
Und dies ist auch die Antwort an alle, die immer wieder
behaupten, der Name der Rose sei am Computer
geschrieben worden und damit erkläre sich sein Erfolg.
1978 – 79 kamen in Amerika gerade die ersten Home-
computerchen auf den Markt, die sich Tandy nannten und
mit denen man kaum mehr als einen Brief zu schreiben
gewagt hätte.
Um nun jedoch die lange Zeit von 1968 bis 1983 mit
irgend etwas zu füllen, war ich gezwungen, Casaubon
anderswohin zu schicken. Wohin? Meine Erinnerungen an
magische Riten, denen ich einmal in den siebziger Jahren
am Rande von Sao Paulo beigewohnt hatte12, führten mich
12 Vgl. meinen Essay »Mit wem halten es die Orixà?« in Über Gott und die Welt , Hanser 1985, S. 116 – 125.
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nach Brasilien (da wußte ich, wovon ich sprach und
welche Form jene Welt hatte). Das war der Grund und
glückliche Ursprung jener Abschweifung, die vielen als zu
lang erschien, die aber für mich (und einige wohlwollende
Leser) von grundlegender Bedeutung war, denn sie
erlaubte mir, in Brasilien und mit Amparo in gedrängter
Form das geschehen zu lassen, was mit den anderen
Personen im Laufe des Romans geschehen sollte. Hätten
IBM, Apple oder Olivetti ihre Wordprocessor sechs oder
sieben Jahre früher auf den Markt gebracht, wäre mein
Roman anders geworden. Brasilien wäre nicht darin
vorgekommen, was viele oberflächliche Leser erleichtert
hätte, aus meiner Sicht aber ein großer Mangel gewesen
wäre.
Die Konstruktion der Insel des vorigen Tages beruhte
auf einer Reihe von historischen Zwängen und ehernen
Gesetzen der Romanform. Die historischen Zwänge
ergaben sich daraus, daß Roberto als junger Mann an
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