Die Bücher und das Paradies
1643
fortschreiten, schreiten die Ereignisse auf dem Schiff von
Stunde zu Stunde voran. So geht es bis zum Erscheinen
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von Pater Caspar. Von da an verweilt sozusagen die
Handlung eine Zeitlang in der Gegenwart. Dann ver-
schwindet Pater Caspar im Meer und Roberto bleibt
wieder allein.
Was sollte ich ihn jetzt tun lassen? Die Zwänge der
Romanform verlangten, ihn mehrere Annäherungs-
versuche ans Ufer machen zu lassen. Aber diese Versuche
mußten langsam sein, Tag für Tag neu, repetitiv und
monoton. Schließlich hatte ich einen Roman zu schreiben,
dessen Zweck ja darin bestehen soll – es sei zum Kummer
aller Ästheten gesagt, doch voller Achtung vor den Regeln
der Gattung, wie sie sich vom hellenistischen Roman bis
heute gebildet haben, zu schweigen von der Poetik des Aristoteles –, dem Leser das Vergnügen der Erzählung zu
liefern.
Zum Glück war ich Opfer eines weiteren Zwanges. Um
mich an den Geist des barocken Romans zu halten, hatte
ich zu Beginn einen Doppelgänger eingeführt, ohne zu
wissen, was ich im weiteren mit ihm anfangen sollte. Nun
kam er mir wie gerufen: Während Roberto die Insel zu
erreichen sucht und jeden Tag besser schwimmen lernt
(aber nicht gut genug), denkt er sich den Roman seines
Doppelgängers aus, und so kann sich erneut die Struktur
einen-Schritt-vor-und-drei-zuriick ergeben, denn während Roberto nicht auf die Insel gelangt, läßt er statt dessen
seinen Doppelgänger auf ihr ankommen, nachdem er ihn
dort hat aufbrechen lassen, wo er selbst aufgebrochen war.
Wie schön ist es, einen Roman zu sehen, der sich von
selber entwickelt! Ich wußte nicht, wo ich ankommen
würde, denn zum Zwang der von mir gewählten
Romanform gehörte, daß Roberto nirgendwo ankommen
durfte. Der Roman endet, weil er von selber geradewegs
auf sein Ende zugeht. Dies war es, was mein Modell-
Leser, wie ich mir wünschte, erkennen sollte. Daß der
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Roman sich von selber schreibt, denn so war es gewesen
und so ist es immer, wirklich.
Was die historischen Zwänge bei Baudolino betraf, so sollte die Rahmenerzählung im Jahre 1204 spielen, da ich
von der Eroberung Konstantinopels erzählen wollte. Aber
Baudolino sollte um die Mitte des 12. Jahrhunderts ge-
boren worden sein (ich hatte mir das Jahr 1142 als Datum
fixiert, um meine Figur mit vielen Tatsachen konfrontieren
zu können, von denen ich gerne erzählen wollte). Der
Brief des Priesters Johannes wird erstmals um 1165
erwähnt, und ich lasse ihn schon ein paar Jahre später
zirkulieren, aber warum macht sich dann Baudolino,
nachdem er Friedrich überzeugt hat, nicht sofort auf die
Suche nach dem Reich des Priesters? Weil ich ihn erst im
Jahre 1204 aus dem fernen Osten zurückkehren lassen
durfte, damit er dem Niketas die ganze Geschichte
während des Brandes von Konstantinopel erzählen konnte.
Und was sollte ich ihn während der fast vierzig Jahre
dazwischen tun lassen? Es war ein bißchen wie die Sache
mit dem Computer im Pendel.
Ich lasse ihn allerlei Dinge tun, und derweil lasse ihn die
Abreise immer weiter hinausschieben. Zu Anfang kam mir
das wie eine Verschwendung vor, mir war, als fügte ich in
die Erzählung eine Reihe von zeitlichen Füllseln ein, um
endlich zu jenem verflixten Jahr 1204 zu gelangen. Aber
am Ende, als alles fertig war (und ich hoffe, ja ich glaube
zu wissen, daß viele Leser es bemerkt haben), hatte ich die
Qual des Begehrens zum Ausdruck gebracht (oder besser gesagt: der Roman hatte sie zum Ausdruck gebracht, ohne
daß ich mir dessen gleich bewußt geworden war).
Baudolino begehrt das Reich, aber er muß den Beginn der
Suche nach ihm ständig aufschieben. So wächst das Reich
des Priesters Johannes in Baudolinos Begehren ins
Riesenhafte – und ebenso (hoffe ich) in den Augen des
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Lesers. Ein weiteres Mal erkennen wir die Vorzüge des
Zwanges.
Wie ich schreibe
Nun versteht man, wie gegenstandslos Fragen von der Art
sind: »Fangen Sie mit Notizen an, schreiben Sie gleich das
erste Kapitel oder das letzte, schreiben Sie mit der Feder,
dem Bleistift, der Schreibmaschine oder am Computer?«
Wenn man Tag für Tag eine Welt erbauen muß, wenn man
immer neue Zeitstrukturen ausprobieren muß, wenn die
Handlungen, die von den Personen vollführt werden und
nach der Logik des gesunden Menschenverstandes oder
den Konventionen des Erzählens (oder gegen diese
Konventionen) ablaufen sollen, sich in die Logik der
Zwänge fügen müssen (mit ständigen
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